Da steht er in der Schlange. In einer Reihe mit den Zuhältern und den Abzockern. Er hat sich eingereiht am Ufer des Flusses und wartet, bis er dran ist. Er steht da zwischen Menschen, die den Fehler zuerst bei sich suchen. Und sich ändern wollen. Noch einmal neu anfangen.
Zumindest heute tun sie das. Weil sie ahnen, dass Neuanfänge flüchtig sein können. Wenn sie denn nur im eigenen Herzen stattfinden. Und keiner etwas mitbekommt. Morgen kann die Welt schon wieder ganz anders aussehen. Was ich heute in aller Klarheit über mich selbst gesehen habe, kommt mir morgen vielleicht schon vor wie eine kitschige religiöse Idee. Worüber ich mich heute erschrocken habe, ist vielleicht morgen gar nicht mehr so dramatisch. Andere sind ja auch nicht besser als ich. Vielleicht mach ich einfach doch so weiter wie bisher …
Aber heute ist heute. Und heute wollen die, die da in der Reihe stehen, dieses äußere Zeichen. Dieses Zeichen, das den Neuanfang spüren lässt. Dieses öffentliche Zeichen. Das den Neuanfang sichtbar macht.
Einmal ganz untertauchen. Vorher tief Luft holen. Dann die Augen schließen. Die Hand auf dem Kopf spüren. Und das Wasser in den Ohren. Und dann Auftauchen, wie aus dem allerersten Wasser. Und freuen. Und schreien. Und die Augen öffnen. Und anders sehen. Und die Ohren frei bekommen. Und anders hören.
Neue Menschen kommen aus diesem Wasser. Töchter Gottes. Söhne Gottes.
Und der Sohn Gottes steht in der Warteschlange. Er hat sich eingereiht. Mitten zwischen denen, die gerade noch als Schlangenbrut beschimpft wurden. Auf Platz 17 vielleicht. Karrikaturisten hätten ihre Freude an dieser Szene.
Viele Jahre später werden sich Professoren an den Universitäten fragen, warum er das tut. Der Sohn Gottes. Warum stellt er sich an? In die Reihe derer, die ihr Leben ändern wollen? Ist er nicht fehlerfrei? Ist er nicht ohne Sünde? Warum dann das Untertauchen? Das Abwaschen von Altem?
Und warum wird davon berichtet? Im Evangelium von Matthäus? Geht es vielleicht um etwas ganz anderes? Geht es um Macht? Um einen Konflikt zwischen den Jüngern vom Täufer Johannes und den späteren Jüngern von Jesus von Nazareth? Soll ja vorkommen, dass sich die Jünger von dem einen mit den Jüngern von dem anderen in die Haare bekommen. Darüber, wer Recht hat. Soll mit diesem Bericht über die Begegnung von Jesus und Johannes ein für allemal klargestellt werden, wer wirklich der Größere ist? Wer die Deutungshoheit hat?
Es bleibt Spekulation. Vielleicht hat es solche Konflikte gegeben zwischen den Jüngern von Johannes und den Jüngern von Jesus. Viel wissen wir davon nicht. Wir wissen aber etwas davon, was diesem Jesus von Nazareth wichtig war. Wie er gelebt hat.
Dass er behauptet, schon immer vor allen da gewesen zu sein. Und sich gleichzeitig hinten anstellt. Das scheint typisch für ihn zu sein. Hohe Ansprüche und dann wieder großes Erbarmen. Steile Sätze und dann wieder Schweigen. Nicht von dieser Welt und doch mitten in ihr drin.
Er irritiert. Er provoziert. Er beantwortet Fragen mit Gegenfragen. Er tut das, was keiner erwartet. Er hält sich nicht an die religiösen Regeln. Und stellt alles auf den Kopf.
Als einmal die Kinder zur Seite geschoben werden und alle Großen sich einig sind: „Die Kleinen stören nur. Die sind jetzt im Weg.“ Da wird er sauer. Auf die Großen. Und er breitet die Arme weit aus für die, die angeblich im Weg sind. Und er nimmt die sogenannten Störenfriede auf den Schoß. Und er sagt: „Wer groß ist, ist eigentlich klein. Und wer klein ist, ist groß. Merkt euch das!“
Er irritiert. Er provoziert. Er beantwortet Fragen mit Gegenfragen. Er tut das, was keiner erwartet. Er hält sich nicht an die religiösen Regeln.
Und als Jesus einmal unter Männern ist, da kommt eine Frau. Eine Frau, die weint. Und die liebt. Da denken alle: „Eine Frau! Diese Frau! Wen die alles schon vor Jesus geliebt hat! Er wird doch nicht …“ Und er sieht sie an. Von Mensch zu Mensch. Obwohl er Mann ist. Und sie Frau. Ganz befreit schaut er sie an. Und ganz befreit fühlt sie sich dann. Und er sagt: „Sie weiß, was sie getan hat. Besser als ihr. Sie kennt ihr eigenes Herz. Und auch ihre Fehler. Und heute hat sie ein äußeres Zeichen gesetzt. Ein öffentliches Zeichen. Merkt euch das!“
Und wenig später. Da zieht Jesus in Jerusalem ein. Pilatus ist von der anderen Seite gekommen. Von Westen. Auf einem Kriegspferd. Und mit Rüstung und Soldaten. Jesus kommt von Osten. Aus Bethanien. Auf einem Esel. Ohne Rüstung, als Friedenskönig. Ein politisches Zeichen. Eine Demonstration. Für den Frieden. Und er muss gar nichts mehr sagen, denn allen, die das sehen, denen ist klar: „Es gibt immer mindestens zwei Wege. Den Weg der Gewalt und den Weg der Gewaltlosigkeit. Den Weg des Krieges oder den Weg des Friedens. Das merken wir uns.“
Und Jesus selbst geht diesen Weg des Friedens, ohne Gewalt, konsequent bis zum Schluss. Er wäscht seinen Jüngern die Füße und zeigt ihnen, was es heißt, dem anderen zu dienen. Er lässt sich gefangen nehmen und wählt nicht den Weg des Schwertes. Und stirbt den schmachvollen Tod eines Verbrechers am Kreuz. Das vorläufige Ende seines Weges.
Jetzt aber steht er am Anfang. In der Schlange der Schlangenbrut. Die 16, die vor ihm waren, sind aus dem Wasser gestiegen. Und nun steht er vor dem Täufer. Und Johannes hat eine Ahnung davon, mit wem er es zu tun hat. Da kommt einer, der ist größer als ich. Ich bin es nicht wert, dass ich mich vor ihm bücke. Dem kann ich nicht das Wasser reichen. Nie im Leben. Diesen kann ich nicht taufen. Er sollte mich taufen, nicht ich ihn. So wäre es richtig. „Du solltest mich taufen. Nicht ich dich. So ist es richtig.“
Ein kurzer Moment der Verwirrung unter denen, die drum herum stehen. Was ist hier los? Wer tauft jetzt wen? Wer ist oben, wer ist unten? Wer ist die Nr. 1? Wer hat das Wasser nötig? Für wen ist dies der Tag eines öffentlichen Zeichens?
Jesus weiß, was für ihn dran ist. „Lass es jetzt geschehen.“ sagt er zu Johannes. Seine ersten Worte bei dieser Begegnung. „Du oder ich? Das spielt doch hier keine Rolle. Es geht doch nicht um uns. Wir sind hier nicht die Macher. Wir lassen es nur geschehen. Ein anderer macht es.“ Und dann lässt Johannes es geschehen. Und Jesus lässt geschehen. Und der Himmel öffnet sich. Und etwas Neues beginnt. Für Jesus. Für Johannes. Für alle, die an diesem Tag Zeugen werden. Und für alle, die später von ihm zeugen werden. Ein Neuanfang. Durch einen, der sich hinten anstellt und der es geschehen lässt.
Nicht immer haben wir uns als Christen in unserer Geschichte hinten angestellt. Nicht immer haben wir von den Kleinen groß gedacht. Nicht immer haben wir Frauen und Männer gleich behandelt. Nicht immer sind wir den Weg des Friedens gegangen. Nicht immer haben wir an uns geschehen lassen, sondern wollten alles selber machen. Nicht immer haben wir uns in die Reihe derer gestellt, die den Fehler zuerst bei sich suchen.
Die Versuchung ist groß, den umgekehrten Weg zu wählen, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet: Den christlichen Glauben mit Macht und Gewalt durchzusetzen. Die eigene Überlegenheit lautstark zu proklamieren. Mit der Angst vor dem Fremden zu spielen und zu betonen, dass unsere Religion ja wohl bitte schön immer noch an Nr. 1 steht, ganz vorne in der Reihe. Wenigstens hier bei uns. In unserem christlichen Abendland.
Und wenn dann die aus dem Morgenland … die mit ihren Kalaschnikows … wenn die dann Angriffe auf unsere Lügenpresse, äh … entschuldigung …. auf unsere Pressefreiheit … und hinterrücks, denn so sind sie ja, die Morgenländer … uns Abendländer einfach niedermetzeln … dann muss man doch …. und das wird man doch wohl noch sagen dürfen … und das hat ja auch nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun … und … achso … einer der erschossenen Polizisten war ein Morgenländer? … eins der Opfer …. na, und wenn schon … und … achso … Jesus auch? … ein Morgenländer? … wie jetzt? echt? …
Und der Morgenländer sagt: „Wer klein ist, ist groß. Und du kennst doch dein Herz. Lass etwas an dir geschehen. Geh mit mir den Weg des Friedens. Stell dich zu mir. Hier in die Reihe derer, die den Fehler bei sich suchen und nicht bei den anderen.“
Ich meine, es steht uns gut an, in dieser Reihe zu stehen. Und nicht in der Reihe derer, die das Abendland gegen das Morgenland ausspielen wollen. Und vielleicht, und das ist meine Hoffnung, vielleicht kommt dann ja irgendwann ein neuer Morgenländer, einer aus der Tradition Abrahams, unseres Stammvaters, der auch kritisch gegenüber seiner eigenen Religion ist, gegenüber dem Islam. So wie Jesus es war gegenüber dem Judentum seiner Zeit. Oder Luther – gegenüber dem Christentum seiner Zeit. Und dem so wie Jesus wichtig ist, dass Frauen und Männer gleiche Rechte haben. Und der einmal für allemal deutlich sagt, dass Religion nicht mit Gewalt durchzusetzen ist. Vielleicht in 95 Thesen. Oder anders. Wie auch immer. Das wäre schon mein Wunsch. Und es gibt diese moderaten Stimmen im Islam ja auch. Aber sie sind nicht laut genug und können sich noch nicht durchsetzen. Das wäre mein Wunsch, dass das passiert. Aber dieser Wunsch wird sich nicht dadurch erfüllen, dass ich die Reihe verlasse, in der Jesus steht.
Wir sind Getaufte. Wie Jesus. Mit Jesus. In Jesus. Wir sind aus dem Wasser gestiegen. Kinder Gottes. An uns ist etwas geschehen. Ein neuer Anfang ist gemacht. Wir können neu hinsehen. Neu hinhören. Wir sind befreit.
(Predigt vom 11.01.15 – Predigttext: Mt 3, 13-17; Bild: Taylor McBride; Flickr Creative Commons License, Ausschnitt)
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