Wie kann ich es aushalten, wenn andere, die in ihrer Solidarität zu der einen oder der anderen Seite Dinge sagen oder schreiben, bei denen ich spüre: Da kann ich nicht mehr mit. Da nehme ich die Haltung des Zuhören und Fragens nicht mehr wahr. Oder sogar: Da ist für mich eine rote Linie überschritten.

Ich frage an dieser Stelle immer noch zunächst nach meinem Aushalten. Eine zweite ebenso wichtige Frage wird sein, wie ich auf manche Worte anderer reagieren kann. Hier geht es mir aber immer noch um das, was in mir passiert. In mir selbst sind so viele Stimmen. Je besser ich diese vielen Stimmen in mir kenne, sie unterscheide, sie ernst nehme, desto besser und reifer kann ich dann später auf die vielen Stimmen von anderen eingehen. Wenn ich zum Beispiel wahrnehme, dass ich selbst auch das starke Gefühl der Rache und Vergeltung kenne; wenn ich mich daran erinnere, wie schwer es sein kann, wenn man sich nicht gesehen fühlt; wenn ich mich mit der Erfahrung verbinde, wie es sich anfühlt, der Willkür von anderen ausgesetzt zu sein, dann hilft mir das auch im sensiblen Umgang mit anderen.

Was ich gerade versuche auszuhalten: Ich habe Freund:innen, die in ihrer jetzt so unvergleichlich wichtigen Solidarität mit Jüdinnen und Juden (auch in unserem Land) und im Kampf gegen Antisemitismus auf klassische anti-muslimische Muster in ihrer Sprache zurückgreifen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht absichtlich Antisemitismus mit rassistischen Äußerungen bekämpfen wollen, aber sie tun es. Ich habe Freund:innen, die Falschinformationen und Propaganda teilen, weil sie in ihrem Schmerz nicht mehr unterscheiden können zwischen notwendiger Kritik am Handeln der israelischen Regierung und radikal-islamischer Verbreitung von Unwahrheiten im Namen der Freiheit. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht absichtlich Menschenrechtsverletzungen mit antisemitischen Äußerungen bekämpfen wollen, aber sie tun es.

Drei lose Gedanken dazu, die nichts erklären, relativieren, entschuldigen wollen, sondern erstmal nur in Ansätzen verstehen, was passiert:

Viele der oben genannten Freund:innen sind Menschen, die besonders mitfühlend sind. Sie bewegt nicht nur, was gerade passiert. Sondern es erschüttert sie zutiefst. Sie sind empathiefähig in einer Weise, dass sie fühlen können, was andere fühlen. Das ist ja erstmal etwas sehr Gutes und Schönes. Was wäre diese Welt ohne mitfühlende Menschen und wie schrecklich wäre es, wenn alle nur mit den Schultern zucken würden? Mitfühlend zu sein ist aber auch sehr, sehr anstrengend. Und nun kommt hinzu, dass etwas anderes meiner Erfahrung nach auch sehr anstrengend ist: und das ist, sich eine lernende und offene Haltung im Nahostkonflikt zu bewahren. Auch wenn dies sicher auch für andere private oder politische Konflikte zutrifft, gilt hier in besonderer Weise, dass man immer noch einen ergänzenden Blickwinkel finden kann; eine persönliche Geschichte, die das bisher Gedachte in Frage stellt; eine Reflexionsebene, die man bisher noch nicht im Blick hatte. Das aber ist auch unglaublich anstrengend, weil der eigene Standpunkt ja immer vorläufig bleibt. Ich verstehe, dass beide Anstrengungen (neben vielen anderen Anstrengungen, die das Leben ja neben der Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt theoretisch auch noch für uns bieten kann) manchmal zu viel ist.

Ein zweiter Gedanke: In großen Krisen brauchen wir Menschen an unserer Seite, die einfach vorbehaltlos und unbedingt genau dort stehen. Ich wähle das Beispiel einer schmerzhaften und verletzenden Trennung zwischen zwei Menschen. Meiner Erfahrung nach brauchst du in dieser Situation eine beste Freundin oder einen Freund, der einfach nur bei dir ist. In deinem Schmerz, deinem Ärger, deiner Wut. Die nicht moderiert, relativiert oder die ergänzende Perspektive des Ex-Partners auch noch einbringt, sondern in ihrer Solidarität uneingeschränkt bei dir ist, selbst wenn dies vermutlich mit etwas mehr Abstand gesehen nicht ganz fair gegenüber der anderen Seite ist. Dieses Bild ist mir eingefallen, wenn manche Menschen sich gerade auf besondere Weise solidarisieren. Kann ein ganzes Volk vielleicht auch in einer Situation wieder dieser beste Freundin für ein anderes Volk sein, also zum Beispiel wir Deutsche für Israelis? Das finde ich eine interessante Frage, mit der ich nicht fertig bin. Ich bin aber skeptisch, weil die oben beschriebene ungeteilte unfaire Solidarität sich im besten Fall ja auf den geschützten privaten, intimen, freundschaftlichen Bereich beschränkt und wir uns bei Nationen/Völkern dagegen im öffentlichen Bereich bewegen.

Eine dritte Wahrnehmung: In großen Krisen und im besonderen Fall des Krieges rücken Gesellschaften häufig enger zusammen. Dieses Zusammenrücken nehme ich als ambivalent wahr. Es hat etwas Eindrückliches, Bewundernswertes, Schönes. Menschen, die zuvor noch zerstritten waren oder scheinbar unvereinbare Positionen vertreten haben, finden auf einmal zusammen. Unterschiedsmerkmale innerhalb von Völkern/Ethnien spielen für eine Zeit kaum noch eine Rolle. Die Solidarität mit den Betroffenen (Leidtragenden wie Verantwortungstragenden) gilt gruppenübergreifend. Gleichzeitig kann man sich nicht vorbehaltlos freuen, weil oft unklar bleibt, hinter wem oder was sich die Menschen nun sammeln. Hinter welcher Idee, hinter welcher Person? Gesellschaften in volatilen Zuständen, in denen ein systemimmanenter Diskurs von Positionen und Kritik teilweise ausfällt, sind auch besonders anfällig für Menschen, Organisationen, Regierungen, die genau diese Situationen für ihre eigene Agenda missbrauchen. Die Tatsache, dass zum Zeitpunkt des Ausbruchs dieses Krieges im Westjordanland die korrupte, undemokratische Fatah unter dem Holocaust-Relativierer Abbas (auch eher formal als faktisch) an der Macht ist; Israel von einer in Teilen rechtsextremistischen, rassistischen Koalition regiert wird und der Gazastreifen von einer Terror-Organisation, die gegenüber der eigenen Bevölkerung mit Gewalt regiert und Israel und alle Jüdinnen und Juden vernichten will, lässt einen gerade nicht ruhiger schlafen.

Ich merke: ich bin schon wieder bei den anderen. Deshalb noch einmal zurück zu mir: Ich kenne das Gefühl, dass eine weitere gedankliche Schleife mir einfach zu anstrengend ist. Ich kenne das Gefühl, jemanden vorbehaltlos an meiner Seite haben zu wollen oder dies für jemand anderes zu sein. Und ich kenne das Gefühl, in unsicherer Lage die Gemeinschaft zu brauchen, in der bisherige Unterschiede zurücktreten. Ich hoffe, das hilft beim Weitergehen.