Austrittszahlen, müde Pastor:innen und ein fehlender Kausalzusammenhang

Unser gegenwärtiger Kirchenvorstand hat zu Beginn seiner Amtsperiode vor fünf Jahren eine interessante Entscheidung getroffen: In jeder Sitzung sollen am Ende die Zahlen und Fakten des vergangenen Monats genannt werden: Taufen, Verstorbene, Beerdigungen, Eintritte, Austritte etc. Ich sag mal so: Einen deprimierenderen Ausklang des gemeinsamen Beisammenseins direkt vor dem abschließenden Vaterunser hätten wir uns vermutlich gar nicht ausdenken können. Die besseren Sitzungen waren noch die, in denen es dann hieß: „Folgende fünf Personen sind ausgetreten, ABER wir hatten auch zwei Eintritte!“ Inzwischen hängen wir die Zahlen meistens einfach nur noch ans Protokoll an – die allgemeine Nachrichtenlage in der Welt ist ja schon traurig genug. 

Unsere Gemeinde spiegelt damit einen Trend, der deutschlandweit zu beobachten ist – und das nicht erst seit gestern. Die Kirchen verlieren massiv an Mitgliedern. 2022 gab es erneut neue Rekordzahlen mit ungefähr 900.000 Menschen, die den Kirchen den Rücken gekehrt haben. Das sind mehr Leute als in Frankfurt wohnen – sogar wenn man die beiden Städte an Main und Oder zusammenzählt! 

Schon wenn mich Leute vor 10 Jahren ängstlich auf Austrittszahlen aufmerksam gemacht haben, habe ich ihnen gesagt: „Mein subjektives Gefühl ist: Das ist erst der Anfang und es wird sich noch wahnsinnig beschleunigen.“ Das war wahrscheinlich auch gar keine besonders nennenswerte prophetische Leistung und meine Antwort ist auch heute immer noch immer dieselbe. Da sind so ganz subjektive Eindrücke wie die Familie, die mir erzählt: „Wir sind eigentlich nur noch in der Kirche, weil es sonst Oma traurig machen würde, wenn wir austreten. Aber wenn Oma nicht mehr ist …“ Auch die Tatsache, dass Kirchenmitglieder seit letztem Jahr nicht mehr die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland stellen, sondern jetzt auch ganz offiziell die Minderheit sind, hat nicht nur einen psychologischen Effekt: Es ist einfach keine Schande (im Sinne von gesellschaftlicher Ächtung) mehr, aus der Kirche auszutreten, sondern ziemlich normal. Exot ist, wer noch bleibt.

Aber Kirchenmitgliedschaft ist nicht der einzige wenig hoffnungsvolle Indikator für uns Verbliebene:  Auch die Zahlen des wöchentlichen Kirchgangs; das Vertrauen in die Institution Kirche und ihr Bodenpersonal; die Bedeutung der Religion fürs eigene Leben und der Glaube an Gott: alle diese Kennzeichen sind rückläufig. Die oft vertretene These, unsere Gesellschaft würde immer weniger kirchlich und gleichzeitig immer spiritueller werden und die Kirchen hätten entweder wahlweise ein Imageproblem oder ihren Markenkern verloren und müssten nur mit ihrer Message klug an die Fragen der spirituell suchenden deutschen Bevölkerung andocken: Nee, die Beobachtung entstammte wohl eher anekdotischer Evidenz als einer soliden Datenlage. Im Gegenteil scheinen sich die Trends noch gegenseitig zu verstärken: Wer keine regelmäßige Glaubenspraxis (z.B. durch den Besuch einer Kirche) mehr ausübt, für den verlieren auch die Inhalte und ihre Alltagsrelevanz nach und nach an Bedeutung. 

Eine gute Adresse für die Einordnung der Zahlen für den deutschsprachigen Raum ist aus meiner Sicht seit vielen Jahren der Religionssoziologe Detlef Pollack. Er hat schon 2015 in einer breit angelegten Studie für Westeuropa gezeigt, dass nicht nur die Antworten der Kirchen auf die Gottesfrage unpassend sind, sondern dass dass schlichtweg die Frage gar nicht mehr gestellt wird. Nicht nur kann man konfessionslos glücklich sein, sondern auch, ohne überhaupt die Frage nach Transzendenz jemals gestellt zu haben. 

Interessant ist nun, dass Pollack gleichzeitig sagt, dass Kirche als Antwort auf ihren Bedeutungsverlust eigentlich ganz viel richtig macht. Sogar, dass der Bedeutungsverlust zum Teil darauf beruht, dass Kirche auch in der Vergangenheit viel richtig gemacht hat. Viele gesellschaftliche Errungenschaften, die unseren freiheitlichen, demokratischen Sozialstaat heute kennzeichnen, sind (nicht ausschließlich, aber auch) durch die Mitwirkung von Christ:innen und Kirchen ermöglicht worden. Kurioserweise hat sich die Kirche also gerade durch ihre „Erfolge“ in Stabilisierungsprozessen in westeuropäischen Gesellschaften in die eigene Bedeutungslosigkeit hineinkatapultiert. Und auch heute machen wir nicht alles falsch: Sowohl auf der Ebene des bewundernswerten persönlichen Engagements von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, als auch in inhaltlichen Fragen (Festhalten an der eigenen Botschaft bei gleichzeitiger Dialogbereitschaft zu anderen Weltanschauungen bis hin zu strukturellen Reformen auf den unterschiedlichsten kirchlichen Ebenen) gibts von Pollack ein gutes Zeugnis. Allerdings bleibt als Resümee: „Die Kirchen machen vieles richtig, aber es hilft ihnen nichts.“ 

Damit ist übrigens nicht gesagt, dass die Kirchen nicht auch vieles ziemlich falsch machen: Missbrauchsskandale, der wenig selbstkritische Umgang mit Missbrauchsskandalen, toxische Machtstrukturen, persönliches Versagen von Kirchenvertreter:innen u.v.m. Aber die oben beschriebenen Trends hätte es auch ohne all dies gegeben – dazu hätte es das persönliche und strukturelle Versagen an vielen Stellen in Kirche gar nicht gebraucht. Vielleicht kann man es so sagen: Den sowieso nicht aufzuhaltenden Trend haben wir nochmal eigenständig beschleunigt. Bei der darauf folgenden naheliegenden Konsequenz, die viele Menschen mit ihrem Kirchenaustritt ziehen, wird dann übrigens auch nicht mehr binnendifferenziert im Sinne von „das ist zwar in Kirche xy passiert, aber ich bin ja in Kirche z“. Stattdessen gilt an der Stelle ökumenische Sippenhaft. Das mag ich als evangelischer Pastor dann zwar persönlich hier und da unfair finden, wenn mir als Grund für den eigenen Austritt die Badewanne von Tebartz-von-Elst gennant wird, entspricht aber zu 100% einer gesellschaftlichen Logik, in der Konfessionen keine Rolle mehr spielen, und ist insofern total folgerichtig. 

Und damit sind wir bei einem weiteren Gesichtspunkt, der sowohl pastoralpsychologisch als auch systemisch interessant ist und inzwischen, so scheint mir, fast schon seelsorgerlich wichtig. Das letzte ist kein Schreibfehler oder Ergebnis der Autokorrektur und soll nicht „seelsorglich“ heißen, sondern es geht mir hier tatsächlich um die Seelsorger:innen. Denn sie brauchen an dieser Stelle jetzt selbst Seelsorge und Hilfe. In diversen Foren von Pastor:innen häufen sich meiner Wahrnehmung nach in letzter Zeit aufrichtige Fragen, die ganz persönlich erschüttert vermehrt fragen: „Wie geht ihr Kolleg:innen damit um, wenn ihr jeden Monat neu Austritts-Schreiben auf dem Schreibtisch habt, während ihr euch 70 Stunden die Woche abmüht, über die eigene Kraft hinaus arbeitet, und dabei eigentlich das Gefühl habt, den Menschen nahe zu sein, sie zu begleiten und im Großen und Ganzen eine gute und bedeutungsvolle Arbeit zu machen. Und dann tritt deine ehemalige Konfirmandin aus, die du so lange begleitet hast. Und das Ehepaar, das du letztes Jahr getraut hast und das dir aus persönlicher Dankbarkeit noch Schokolade inklusive Dankeskarte vorbeigebracht hat. Und und und …“ Manche Pastor:innen-facebook-Gruppen sind hier fast zu Selbsthilfegruppen geworden und das meine ich gar nicht ironisch, sondern ganz mitfühlend. Irgendwie auch mit mir selbst, denn in den letzten Jahren ist mir zunehmend bewusst geworden, dass die vier Jahrzehnte, die ich voraussichtlich aktiv im Dienst der Kirche sein werde, mit ziemlicher Sicherheit auch vier Jahrzehnte sein werden, in denen ich Prozesse begleite, wo alles immer weniger wird: Geld, Ressourcen, Gebäude, Mitarbeiter:innen etc. Ich bin in eine Zeit geboren, in der ich innerhalb meines Berufs das Kleiner-Werden begleite. In gewisser Weise bin ich auch hier oft Trauerbegleiter.

Nun bin ich selbst nicht der Persönlichkeitstyp, der über dieses Schicksal in große Trübsal verfällt und sich in die angeblich so goldenen 60er, 70er, 80er oder 90er Jahre zurückwünscht. Damals waren ja nicht nur die Zahlen hübscher anzuschauen, sondern zum Teil auch der gesellschaftliche Druck höher, Sonntagmorgens um 10 Uhr in der Kirchenbank zu sitzen oder zumindest nicht aus dem Laden auszutreten. In diesen Zeiten gab es auch wenig Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt, herrschten zunächst ausschließlich männliche Pastoren zum Teil patronatsartig über ihre kleinen Königreiche, musste Kirche in ihrer Deutungshoheit wenig Dialogbereitschaft gegenüber anderen Weltanschauungen zeigen und sollten auch Jüd:innen missioniert werden … Nein, danke – dahin will ich nicht zurück. 

Wie auch immer: Aus ebensolchen wie oben beschriebenen Beiträgen liest sich nicht nur persönliche Enttäuschung, Müdigkeit und manchmal sogar Verbitterung heraus, sondern auch ein systemisches Missverständnis, das häufig sogar noch kognitiv benannt wird („Ich weiß ja eigentlich, dass es nichts mit mir persönlich zu tun hat, aber …“). Aber das Bauchgefühl kommt dagegen nicht an, das uns Pastor:innen sagt, dass es eben doch auf unseren persönlichen Einsatz ankommt, um die Kirche noch zu retten (so der motivierte Vikar in der Ausbildung) oder zumindest das Tempo ihres Niedergangs zu verlangsamen (so beim zehnjährigen Dienstjubiläum). Dieses Selbstverständnis (und sei es auch nur im Bauch lokalisiert) wird fatalerweise aus verschiedenen Ecken ständig noch bestätigt – ob durch liebe Komplimente für die eigene Arbeit von Menschen aus dem eigenen Umfeld („wenn es mehr Leute in der Kirche so wie dich geben würde, dann …“) bis hin zu bischöflichen (ebenso wertschätzend gemeinten) Statements über Berufsanfänger:innen wie dieses: „Wenn ich die Motivation dieser jungen Menschen sehe, dann ist mir um die Zukunft der Kirche gar nicht bange!“ Lieb gemeint, aber ein konstruierter logischer Zusammenhang, der Gift sein kann. 

Denn wenn ich mich dann anschließend noch ein bisschen mehr investiert habe, noch drei Besuche mehr gemacht habe als sowieso schon, noch ein Projekt mehr betreut, die Taufen und Trauungen noch kreativer gestaltet habe, unsere Öffentlichkeitsarbeit noch mehr professionalisiert, unsere internen Strukturen noch effektiver organisiert und den Menschen an meiner Tür noch intensiver zugehört habe … dann tut es noch mehr weh, wenn der eine der beiden Ehepartner, der noch in der Kirche war, zwei Monate nach der liebevoll von mir gestalteten Trauung unsere Kirche verlässt; wenn das Austrittsschreiben des Ex-Konfis und Teamers, den ich durch seinen ersten großen Liebeskummer und Panikattacken begleitet habe, auf dem Schreibtisch liegt; wenn die Patin, die für die Taufe ihrer Nichte extra in die Kirche eingetreten war, nun anschließend direkt wieder austritt, obwohl sie mir noch persönlich an der Kirchentür eine „ganz wundervolle Messe“ attestiert hatte. Ich verstehe jed:e Kolleg:in, die sich da persönlich enttäuscht fühlt. Ich kann mich da auch selbst nicht ganz von frei machen. Und man kann auch diskutieren, ob das von den Leuten in dem einen oder anderen Fall frech, unsolidarisch oder was auch immer ist. Aber am Ende ist vielleicht doch die wichtigste (seelsorgerliche) Erkenntnis: Das eine (das persönliche Engagement) hat mit dem anderen (der Zukunft der Kirche im Allgemeinen und der aktuellen Entwicklung der Mitgliederzahlen im Speziellen) in der Regel mal gar nichts zu tun. Das muss irgendwie vom Kopf ins Herz und in den Bauch – auch für die persönliche Psychohygiene meiner Zunft. 

Und anschließend dürfen wir und werde ich wieder mit großer Freude das tun, was ich am liebsten tue: Pastor sein. Mein Traumberuf nach wie vor. In einer Kirche, die im weltweiten Vergleich immer noch unglaublich große Ressourcen zur Verfügung hat und deren Zukunft nicht von Kirchenbildern abhängig ist, die wir getrost hinter uns lassen können. Und ich werde versuchen, liebevoll Trauungen zu gestalten, junge Menschen auf dem Weg in ihr Leben und ihren Glauben zu begleiten, Ratsuchenden aufmerksam zuzuhören, Sterbenden die Hand zu halten. Aber nicht, weil ich dadurch irgendetwas retten könnte. Sondern weil es mein Auftrag ist und ich es als Christ und Pastor gerne tue. Und auch, weil es ein wichtiger Beitrag zu einer solidarischen Gesellschaft ist. Und wenn anschließend Menschen diesen Zusammenhang sehen, dass nämlich Pastor:innen-Gehälter zumindest momentan noch in einem direkten Zusammenhang mit der Anzahl an Kirchenmitgliedschaften stehen und wenn sie vielleicht auch deshalb Kirchenmitglieder bleiben oder werden, ist das aus meiner Sicht sinnvoll. Aber meine Arbeit, mein Selbstverständnis und mein persönliches Wohlbefinden darf vom Megatrend der Säkularisierung, den ich genauso wenig wie andere engagierte Kolleg:innen mit noch so engagierter Arbeit aufhalten werde, nicht abhängig sein. 

Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee mit dem Vorlesen der Austrittszahlen am Ende der Kirchenvorstandssitzung. Die Intention war gut. Aber nicht nur ist es psychologisch ungeschickt, sondern es konstruiert auch einen logischen Zusammenhang, der sich nur im Einzelfall, aber eben nicht grundsätzlich herstellen lässt. 

(Foto: Nazim Coskun, unsplash)

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6 Kommentare

  1. Ralf-Günter Werb

    leider geht es den ehrenamtlichen nicht viel besser. Es macht schon depressiv ein Projekt anzusetzen, über die Zukunft der gemeinde im ganzen nachzudenken, den Schrumpfungsprozess zu begleiten und dann Menschen zu sehen, die mein Engagement loben und selbst sich im Gestrüpp von Job, Familie, Sport, gesellschaftlichen Verpflichtungen und Standesdenken verheddern. sind wir als Kirchengemeinde noch relevant. Mit der Isolation in corona Zeiten hat sich der Individualismus verstärkt (nicht begonnen). Ist das Christentum noch systemrelavant? meine Antwort „nein“ wir haben uns mit der menschenfeidlichkeit der Missbrauchsskandale von der Liebe Gottes und Jesus Worten entfernt. Und das aufarbeiten nützt aktuell nichts. Denn wir arbeiten sie gewissenhaft auf während Männer die Frauen während Fußball Weltmeisterschaften öffentlich gegen ihren Willen küssen sich als Opfer darstellen (in was für einer fake Welt leben diese Funktionäre) es braucht einen grundsätzlich Wandel meiner Kirche. Wir müssen uns von Kirchenmusik, Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft, Kirchengebäuden und stellenplänen verabschieden. Wir müssen unsere Ressourcen nutzen Ungerechtigkeiten in der Welt mit Schiffen im Mittelmeer und vor der Haustüre zu bekämpfen. Und wenn das Geld zu Ende ist, gibt es hauskirchen die wieder gesellschaftliche Relevanz haben weil sie Teil der Gesellschaft sind. Und die nichts mehr zu retten haben an pfründen und Staatsverträgen der Vergangenheit. Es gibt zu viele Funktionäre und Ebenen in meiner evangelischen Kirche und das Evangelium steht teilweise neben der Verwaltungsverordnung. Es gehört in den Mittelpunkt des kirchlichen Denkens.
    Dir wünsche ich für deine segensreiche Arbeit eben diesen Segen. Er behüte deinen Eingang und Ausgang von nun an bis in Ewigkeit.

  2. Danke erstmal für Deinen Segenswunsch! Wie es gehen kann, das wird sicher auch von Ort zu Ort und Kirche zu Kirche verschieden aussehen – da gibt es vermutlich keine einfachen Rezepte. Und Du hast völlig recht. Man hätte diesen Artikel genauso auch für ehrenamtliches Engagement, ehrenamtliche Müdigkeit etc. schreiben können. Bei mir war er ausgelöst von einer Diskussion in einem Forum von Pastor:innen, deshalb hier dieser Fokus auf unsere Berufsgruppe.

  3. Fabian Hermes

    Lieber Simon, auch hier wieder einen herzlich Dank für deine ehrlichen Worte. Ich mag es wie du schreibst, denn deine Worte spiegeln die Realität in der Kirche aber insbesondere auch innerhalb der Gesellschaft im Gesamten wieder. Der grundsätzliche Ansatz sich persönlich von der Verantwortung bei Kirchenaustritten frei zu machen ist natürlich selbstverständlich und komplett richtig allerdings sind wir als Menschen eben nicht rein Verstandsgesteuert sondern eben auch mit dem Herzen bei der Sache, weshalb wir immer wieder unseren eigenen Anteil bei den Entscheidungen unseres Gegenüber sehen. Das ist schmerzhaft, anstrengend aber auch wichtig, denn es macht uns zu Menschen.

    Ich würde den Worten von Ralf-Günter zustimmen, denn es scheint mir wirklich die Frage der Zeit zu sein, wie sich die Kirche definiert und was „Kirche“ sein will. Losgelöst von der moralischen Instanz, die Menschen erklären will wie sie ihr Leben zu leben haben hin zu einem moralischen Kompass der Impulse gibt in einer sich rasend schnell verändernden Welt. Wird das die Welt verändern? Nein. Aber möglicherweise wird es ein Anstoß sein, dass die Menschen für sich einen Sinn in all dem finden womit sie sich täglich konfrontiert sehen. Der „Wegfall“ der Kirche hat natürlich einen positiven Effekt darauf, dass Menschen sich vermeintlich freier in ihrer Lebensführung fühlen und von der Unterdrückung durch patriarchale Machtstrukturen welche die Kirche selbst über Jahrhunderte aufgebaut hat garnicht zu sprechen. Doch der Wegfall der Kirche ist fatal für die Moral der Gesellschaft wie wir durch verschiedenste Trends erkennen wie beispielsweise dem Aufstieg der AFD, der Verrohung der Umfangsformen, wachsende soziale Ungerechtigkeit in einem reichen Industriestaat, Lagerbildung bei unterschiedlichsten Themen, etc. Da der Staat sich als Gegenspieler der freien Marktwirtschaft seit Anfang der 90er Jahre immer weiter zurückgezogen hat sehen wir die Auswirkungen des Neoliberalismus immer deutlicher. Wenn nun auch die Kirche als Gegenspieler und mahnender Zeigefinger gegen Ausgrenzung und Benachteiligung von marginalisieten Gruppen immer mehr an Bedeutung verliert gilt zunehmend das Recht des Stärkeren und die Gesellschaft zerbricht weiter. Dementsprechend hat Kirche für mich nicht nur den Auftrag zu vermitteln, dass „da Oben“ bzw. Nach dem Tod noch irgendwas ist sondern vielmehr den Menschen zu vermitteln, dass die Liebe Gottes und die Liebe Jesus aus jedem einzelnen von uns erwächst und wir nicht nur etwas erwarten dürfen sondern wir uns auch aktiv bei der Gestaltung unseres Zusammenlebens mit einbringen müssen.

    Am Ende ist es aus meiner Sicht nicht wichtig, ob die Konfirmandin nach Jahren der Konfirmation aus der Kirche austritt. Es zählt was du durch eine Arbeit, dein Wirken und deine Worte in dem Menschen gepflanzt hast. Am Ende ist die Kirche nur eine Institution (die natürlich unsere Gehälter bezahlt) aber die Arbeit im kirchlichen Dienst ist aus meiner Sicht soviel mehr als nur der Augenblick, den wir im direkten Gegenüber erleben. Er gibt Menschen etwas. Es ist nicht fassbar, man kann es nicht essen und es unterhält einen auch nicht. Aber es gibt ein Gefühl. Ein Gefühl, dass da Menschen sind denen ich wichtig bin und die mich annehmen wie ich bin. Aus meiner Sicht ist das das Vertrauen und die Zuversicht die ich in Gott habe und das gebe ich durch meine „Arbeit“ weiter. Und irgendetwas davon bleibt bei meinem Gegenüber und vielleicht gibt er oder sie es auch weiter.

  4. Das sind ganz wunderbare Gedanken und Worte, Fabian. Da kann ich nur „Amen“ sagen – ein bisschen wie eine gute Verheißung für uns alle in nicht immer einfachen Zeiten.

  5. Lieber Pastor de Vries,
    danke für Ihren Text und Ihre Wahrnehmungen. Ich teile sie sehr weitgehend und freue mich, wenn auch Theolog*innen in der kirchlichen Praxis hier und da Detlef Pollack wahrnehmen, anstatt sich nur mit dem allzu kompatiblen H. Rosa zu trösten und sich selbst zu ermutigen.
    Gut, wenn auch manche harte und unbequeme Analyse und Prognose in notwendiger Klarheit ausgesprochen (oder geschrieben) wird!
    Nur, wenn Sie bei der Auflistung von problematischen Kirchen-Phänomenen und Skandalen von „ökumenischer Sippenhaft“ schreiben, erwidere ich Ihnen als kath. Theologe, dass Sie (und m.E. eine ganze Reihe von Kolleg*innen) s sich an dem Punkt zu einfach machen. Das Phänomen mag zwar hier und da durchaus zu beobachten sein. Aber der ev. Mitglieder- und Kirchenschwund ist eben nicht nur mit dem desolaten Zustand der kath. Kirche zu erklären. An dem allzu leichten Muster zeigt sich vielmehr die gering ausgeprägte Bereitschaft, die eigenen Defizite, Probleme und Fehler auch wirklich anzugehen und zu benennen. So begnügen sich eben viele ev. Theologe*innen damit, die eigenen Spezifika darauf zu beschränken, sich als eine „nettere“ Alternative zur kath. Kirche zu präsentieren. Das bedeutet langfristig aber, dass immer weniger ev. Christ*innen (ohne Bezug zur kath. Kirche und die Absetzung von ihr!) sagen können, worin der Eigenwert ihrer ev. Tradition besteht
    .
    Eine Erzählung mag dies veranschaulichen:
    Vor zwei Wochen sprach mich nach einem Gottesdienst (ich bin auch Priester und halte jeden Sonntag Gottesdienste) ein Ehepaar an. Sie stellen sich (auch vor anderen, deshalb kann ich das hier wohl so wiedergeben) als engagierte ev. Christ*innen vor. Sie seien jetzt aber aus der ev. Kirche ausgetreten, weil ihre Gemeindepastorin immer wieder in ihren Predigten über die kath. Kirche hergezogen sei und ihre ev. Bekenntnis ausschließlich in Absetzung davon konstruiert und kommuniziert habe. Diese permanenten Ressentiments hätten die beiden so sehr geärgert, dass sie eben ausgetreten seien. Sie wollten nicht konvertieren, weil ihnen ihre Tradition und konfessionelle Prägung ja so wichtig seien. So seien sie nun eben auf der Suche.

    Dieser Ärger über konfessionelle Ressentiments als manifester Stil ist mir schon häufiger begegnet. Und er beginnt m.E. da, wo bei der Problembeschreibung lediglich „ökumenische Sippenhaft“ benannt und nicht weitergehend nach den wirklichen, den eigenen Problemfeldern gefragt wird.
    Ich weiß natürlich, dass es ähnliche Problemfelder (und viele mehr) in meiner katholischen Kirche gibt. Aber die sind hier ja nicht das Thema.
    Also: An der Stelle machen Sie es sich m.E. zu einfach.
    Mit besten Grüßen und Dank, dass Sie sich mit den vorgestellten Gedanken hier ja auch der Diskussion und Kritik stellen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Wolfgang Beck

    Prof. Dr. Wolfgang Beck
    Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik
    Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen
    http://www.sankt-georgen.de

  6. Lieber Herr Beck, danke für Ihren ausführlich Kommentar. Ich kann ganz vieles davon nachvollziehen, nachdem ich es sorgfältig gelesen habe. Mein Beispiel mit der Sippenhaft hatte ich in alle Richtungen verlaufend gedacht. Z.B. wird bei uns sehr häufig kritisiert, dass wir uns in der Seenotrettung engagieren. Der ehemalige Ratsvorsitzende Bedford-Strohm ist da immer noch die Hassfigur für viele. Ich bin relativ sicher, dass er auch Grund dafür ist, dass z.B. auch bei unseren reformierten Geschwistern hier vor Ort Menschen austreten. Ich denke also nicht, dass „die Sippenhaft“ einlinig zu denken ist. Aber ich kann gut verstehen, dass das so wirken kann, weil ich nur ein Beispiel genannt habe, dass nun gerade aus dem katholischen Bereich stammt. Das war nun eins, von dem ich authentisch berichten konnte und das mir mehrfach passiert und ja auch ein bisschen absurd ist. Aber ich hätte auch noch weitere Beispiele nennen können. Mein Punkt war, dass einfach die Konfessionen (völlig egal in welche Richtung) einfach keine Rolle mehr spielen. Ich treffe immer häufiger auf Menschen, die noch wissen, dass sie (wahrscheinlich) in einer Kirche sind, aber nicht genau wissen, in welcher.

    Ich glaube ansonsten, dass ich hoffentlich wertschätzend gegenüber anderen Konfessionen agiere und eher kritisch gegenüber meiner eigenen Konfession bin (hoffentlich entspricht da die Fremdwahrnehmung auch meiner eigenen).. Wenn Sie ein wenig meine Beiträge verfolgen, werden Sie glaube ich schnell sehen, dass ich mich durchaus kritisch mit meinem eigenen Laden auseinandersetze. Dieser Beitrag hatte aber nun ja ein anderes Thema – man kann ja nicht in jedem Beitrag alles behandeln. Herzliche Grüße nach St. Georgen!

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