Ein Leisetreter bin ich. So lese ich in Kommentarspalten und Feuilletonbeiträgen. Einer von denen, die der bürgerlichen Meinung hinterherlaufen. Vertreter einer Institution, die schon lange für nichts mehr steht. Ein Manager bestenfalls, aber kein Heiliger. Nicht, dass ich mit meinen katholischen Amtsbrüdern tauschen wollte. Während Ihnen ihre ewige Gestrigkeit angekreidet wird, bin ich mit dem Vorwurf der Beliebigkeit konfrontiert.

Das bin ich, weil ich evangelischer Pastor bin. Wahrscheinlich sehe ich nicht unbedingt wie einer aus. Zunächst einmal bin ich viel zu jung. Die meisten haben die Vorstellung, ein Pastor müsse mindestens fünfzig sein und Vollbart tragen. Ein Anspruch, der übrigens auch für meine Kolleginnen im Amt nicht ganz einfach zu erfüllen ist. Wenn ich bei einer Party auf die Frage antworte, was ich beruflich mache, fällt meinen Gesprächspartnern regelmäßig die Kinnlade runter. Die meisten denken, ich mache Scherze. Andere gucken mitleidig.

Als Pastor bin ich Teil meiner Kirche. In der Wahrnehmung mancher bin ich sogar die Kirche. Und wenn ich einmal einen schlechten Tag habe, dann ist für sie sofort die ganze Kirche in Verruf. Da wird nicht umständlich differenziert zwischen Gott, seiner Kirche und dem Bodenpersonal. So wie neulich, als ich meine Tochter aus dem Kindergarten abholte und ein anderes Kind der Mutter verstört ins Ohr flüsterte: „Warum holt der Gott denn jetzt die Maleen ab?“ Man könnte denken, diese Verwechslung wäre kindisch. Ich bin da nicht immer so sicher.

Als Pastor bin ich Teil meiner Kirche. In der Wahrnehmung mancher bin ich sogar die Kirche. Und wenn ich einmal einen schlechten Tag habe, dann ist für sie sofort die ganze Kirche in Verruf. Da wird nicht umständlich differenziert zwischen Gott, seiner Kirche und dem Bodenpersonal.

Ich bin Teil meiner Kirche und werde mit ihr identifiziert. Trotzdem habe ich aber auch ein kritisches Verhältnis zu ihr. „Typisch evangelisch“, sagt ein katholischer Kollege. Immer ein bisschen auf Distanz bleiben. Sogar zur Mutter Kirche. Wer im evangelischen Kollegenkreis nicht auf das eigene Landeskirchenamt schimpft, ist schon verdächtig.

In letzter Zeit aber ist das schwierig geworden. Meine Kirche hat viele Kompetenzen in ihre Kirchenkreise verlagert. Und damit ändern sich zwangläufig auch die Feindbilder: Konnte man früher auf die Oberkirchenräte in Hannover schimpfen, sitzen die Prügelknaben nun auf einmal ganz in der Nähe. Oder noch fataler: Immer öfter bin ich es selbst, der unbequeme Entscheidungen in der eigenen Gemeinde vertreten muss. Huch.

Ein Leisetreter? Einer, der den unangenehmen Themen aus dem Weg geht? Einer, der nirgendwo anecken will? Schon strukturell scheint mir, dass mein Beruf denkbar ungeeignet ist für Menschen, die möglichst konfliktfrei durchs Leben gehen wollen.

Ich bin Teil einer Generationen von Pastorinnen und Pastoren, denen kein klares Rollenbild mehr zur Verfügung steht. Früher hat das Amt die Rolle definiert. Heute sind die Erwartungen so unterschiedlich und vielfältig, dass ich sie fast zwangsläufig enttäuschen muss.

Pastor heißt ja zunächst einmal übersetzt „Hirte“. Das soll ich sein. Dann natürlich ein empathischer Seelsorger. Selbstverständlich auch Prediger. In unseren Zeiten am besten auch Visionär, Moderator und Netzwerker. Außerdem Berater, Tröster, Marketing-Experte, Pressesprecher, Vermittler, Verwalter, Geistlicher, Vorgesetzter, Evangelist, Lehrer, Prophet, Unterstützer, Freund, Lobbyist, Macher, Entertainer, Ermutiger, Lebens-Coach, Mentor, Heiler, Fundraiser, Fürsprecher, Diplomat, Vorbild und Beter. Manchmal auch Sündenbock, Maskottchen oder Superheld.

Mich wundert wenig, dass immer weniger Menschen eine fast zehnjährige Ausbildungszeit auf sich nehmen, um dann in Stellenkonstruktionen mit sieben Gottesdienst-Orten, fünf Kirchenvorständen und zusätzlichen Aufgaben im Kirchenkreis genau diesen Erwartungshaltungen zu begegnen.

Man könnte sich angesichts all dessen erschlagen fühlen. Von der Fülle der Aufgaben. Von der immer größer werdenden Grundlast. Von dem, was andere von mir erhoffen. Und nicht zuletzt von dem, was ich selbst von mir erwarte. Und manchmal tue ich das auch. Manchmal ist mir das alles zu viel. Und wenn ich mich unter den Kolleginnen und Kollegen umschaue, dann lese ich auch aus ihren Gesichtern Erschöpfung, Verletzung und Überforderung.

Aber ich sehe auch ihre Liebe zum Beruf, zur Kirche und zu Gott. Frauen und Männer, die in teils schwierigen kirchengemeindlichen Situationen und unter großem persönlichen Einsatz mit ihren ganz unterschiedlichen Glaubensgeschichten und Persönlichkeiten leise oder laut von Gott erzählen und ihren Glauben leben. Mag sein, dass da auch Leisetreter dabei sind. Mir persönlich sind die allerdings lieber als die Lautsprecher. Über beide möchte ich nicht urteilen.

Stattdessen erzähle ich von dem, was ich liebe. Und dazu gehört nun auch meine protestantische Kirche – und das nicht nur wegen des jesuanischen Gebots der Feindesliebe. Nach wie vor bin ich von dem überzeugt, was als evangelische Kirche zugleich unsere größte Stärke und unsere größte Schwäche ist: Unsere Vielfalt und Vielstimmigkeit, die sich nicht auf die eine zu befolgende Lehrmeinung destillieren lässt. Der Pluralismus ist Teil der DNA dieser Kirche. Und dennoch und gerade deswegen trifft sie der Vorwurf der Beliebigkeit und Gesichtslosigkeit nur bedingt.

Denn Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind nur im Diskurs zu haben. Das zeigt schon das biblische Zeugnis, das in sich selbst durchaus vielgestaltig ist. Über das Leben Jesu zum Beispiel ist eben nicht nur ein einziger Bericht überliefert, sondern gleich vier zum Teil sehr widersprüchliche Aufzeichnungen. Bis heute kann man den Müttern und Vätern im Glauben nur dankbar dafür sein, dass sie die Weisheit besessen haben, schon aus Prinzip weder Unstimmigkeiten noch Vielstimmigkeiten zu eliminieren.

Ich träume von einer Kirche, in der verschiedene Meinungen ausgehalten und Unterschiede gefeiert werden. In der Fragen und Zweifel willkommen sind. In der sich einzelne einbringen kann. Von einer Kirche, deren Herz besonders für die Fremden, die Armen, die Verzweifelten, die Depressiven, die Kranken, die Gefangenen und die Einsamen schlägt. Aber auch von einer Kirche, in der viel gefeiert wird.

Und so träume ich auch heute von einer Kirche, in der verschiedene Meinungen ausgehalten und Unterschiede gefeiert werden. Von einer Kirche, in der Fragen und Zweifel willkommen sind. In der sich jede und jeder einzelne einbringen kann. Von einer Kirche, deren Herz besonders für die Fremden, die Armen, die Verzweifelten, die Depressiven, die Kranken, die Gefangenen und die Einsamen schlägt. Aber auch von einer Kirche, in der viel gefeiert wird. In der das Lachen genauso zu Hause ist wie das Weinen. Auch das Lachen über uns selbst. Und schließlich von einer Kirche, die ihre frohe Botschaft nicht für sich behält, sondern nach außen trägt.

Von dieser Kirche träume ich und wache regelmäßig im Alltag der Gegenwart wieder auf. Fülle Statistiken aus. Beglaubige Zeugniskopien. Helfe Ahnenforschern.

Und weigere mich dennoch, diese Träume aufzugeben. Und jubel mit dem Paar, das die Hoffnung auf ein Kind schon aufgegeben hat und bei der Taufe ihre ganze Freude nur noch herausschreien möchte. Und weine mit dem Vater, der bittere Tränen um seinen verunglückten Sohn vergießt. Und sitze bis spät in die Nacht am Lagerfeuer mit meinen Konfirmanden, die von ihrem Liebeskummer erzählen. Und predige von dem, was mir Hoffnung gibt und mich leben lässt.

Ein Leisetreter? Ich denke nicht. Ich hoffe nicht. Und wenn dann doch einmal, dann ist mir ein Trost, dass ich nicht die Kirche bin. Und schon gar nicht Gott.

[Bild: Giulia van Pelt, Flickr Creative Commons]