Von einer bedeutungslos werdenden Volkskirche zur „Kirche mit anderen“

Ein weitverbreitetes und beliebtes Deutungsmuster zur steigenden Bedeutungslosigkeit der Volkskirchen in unserem Land funktioniert ungefähr so:

„Immer weniger Menschen kommen in die Kirchen. Der Grund dafür ist allerdings nicht, dass das Volk nicht spirituell interessiert wäre. Ganz im Gegenteil: Wir leben in der Zeit des Post-Säkularismus. Die Menschen tragen einen ganzen Bauchladen voller spiritueller Fragen und Sehnsüchte mit sich herum. Nur sind ausgerechnet die Kirchen der letzte Ort, an dem sie diese Fragen stellen, da sie dort keine Antworten mehr erwarten.“

Weitverbreitet ist dieses Deutungsmuster interessanterweise gerade innerhalb der kirchlichen Landschaft. Und zwar vermutlich deshalb, weil es in einer Zeit, die stattdessen auch depressiv machen könnte, einen gerade noch erträglichen Mix aus angeblich realistischer Gegenwartsanalyse bei immerhin noch vorhandener Zukunftsperspektive bietet: Zwar hat die Kirche bisher an den Leuten vorbeigeredet, weil sie Antworten auf Fragen gegeben kann, die so gar nicht gestellt worden waren. Aber nun, da dieses Problem erkannt ist, hat sie die Möglichkeit, sich als ehemaliger Monopolist auf dem Feld der Sinnsuche den heute aktuellen spirituellen Fragen der Menschen zuzuwenden und ihre Deutungshoheit im Hinblick auf die wirklich wichtigen Themen des Lebens zurückzugewinnen.

Beliebt ist das Deutungsmuster unter den Gläubigen darüber hinaus vielleicht aus dem Grund, weil sie gelegentliche Irritationen zu kanalisieren hilft – wenn z.B. die Nachbarin ihre Blumen nur noch nach dem Mondkalender einpflanzt oder der Arbeitskollege einen kleinen Plastik-Buddha auf dem Schreibtisch platziert. Da beruhigt es zu wissen, dass die existenziellen Fragen dieser Menschen, die sich offenbar in solchem Firlefanz äußern, eigentlich nur die fehlgeleitete Suche nach dem Gott der Rechtgläubigen ist. Trotzdem bleibt für letztere der Eindruck, dass die ganze christliche Nation inzwischen von Duftstäbchen, Traumfängern und Feng-Shui-Ratgebern bedroht ist.

Nun kommt aber eine aktuelle Studie zur „Religion in der Moderne“ von Detlef Pollack und Gergely Rosta zu einem ganz anderen Ergebnis für den westeuropäischen Bereich. Das Volk ist demnach keinesfalls spirituell suchend, sondern mehrheitlich schlichtweg desinteressiert. Und zwar nicht nur im Hinblick auf die Kirchen oder das Christentum, sondern insgesamt und überhaupt, was die Religion betrifft. Nicht nur sind die Antworten der Kirche unpassend, sondern die Frage nach Gott wird schlichtweg gar nicht mehr gestellt. Konfessionslosigkeit muss nicht mehr legitimiert werden. Und nicht nur kann man „konfessionslos glücklich“ sein, sondern auch, ohne überhaupt die Frage nach der Transzendenz zu stellen.

Nicht nur sind die Antworten der Kirche unpassend, sondern die Frage nach Gott wird schlichtweg gar nicht mehr gestellt.

Und an all dem kann man noch nicht einmal der Kirche die Schuld geben, denn die hat eigentlich vieles richtig gemacht. Kurioserweise hat sie sich gerade durch ihre Erfolge in Stabilisierungsprozessen in westeuropäischen Gesellschaften in die eigene Bedeutungslosigkeit hineinkatapultiert.

Was also nun? Was nun, wo deutlich wird, dass der Plastik-Buddha auf dem Schreibtisch des Arbeitskollegen doch nicht stellvertretend für Horden von spirituell suchenden Bevölkerungsgruppen in unserem Land steht?

Bleibt als Ausweg noch die „Small-is-beautiful“-These von Papst Benedikt, die in die rückläufigen Zahlen immerhin die Hoffnung hineinliest, dass das Christentum ja immer gerade dann besonders vital war, wenn seine Botschaft von kleinen Gruppen mit einem umso größeren Maß an Leidenschaft gelebt wurde. Problem ist nur: Die Pollack-Studie stellt fest (übrigens im Unterschied zu den meisten Deutungen der jüngsten Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD), dass die äußeren Mitgliedschaftszahlen der Großkirchen noch vergleichsweise vorzeigbar sind gegenüber der Struktur der inneren Beteiligung und Verbundenheit der Noch-Mitglieder zu ihrer Institution. Hier sieht es noch weit düsterer aus. Also ist die Kirche doch noch nicht „small“ und erst recht nicht „beautiful“ – zumindest, was die breite Fläche betrifft.

In Interviews zur Studie mit Detlef Pollack lautet die letzte Frage bei solch deprimierendem Befund daher regelmäßig auch: „Was also nun? Wo ist der Ausweg für die Kirchen? Wie kann der Bedeutungsverlust aufgehalten werden?“ Das kann doch nicht alles sein: Alles richtig gemacht und trotzdem auf dem Abstellgleis. Machtloses Opfer von äußeren Faktoren, die nicht in der eigenen Hand liegen. Detlef Pollack bleibt vorsichtig. Spricht von kleinen Stellschrauben und „Nähe zu den Menschen“.

Der Bedeutungsverlust der Kirchen in Westeuropa ist abhängig von Faktoren, die außerhalb dessen liegen, was die meisten von uns beeinflussen können. Aber es könnte Schlimmeres geben.

Mir scheint genau das angemessen zu sein. Der Bedeutungsverlust der Kirchen in Westeuropa ist abhängig von Faktoren, die außerhalb dessen liegen, was die meisten von uns beeinflussen können. Aber so sehr es auch den Narzissmus von uns Kirchenmenschen kränkt: Es könnte Schlimmeres geben. Die Sorge darum, für wie wichtig wir als Kirche genommen werden, kann nicht zum entscheidenden Handlungsmotiv werden.

Ich erlebe, dass Kirche dort ernstgenommen und wertgeschätzt wird, wo sie tatsächlich bei den Menschen ist. Ob das an der Seite von Sportvereinen und der lokalen Essenstafel bei der Betreuung von Flüchtlingen ist oder in der zugewandten Begleitung von Trauerfamilien. Ob das in einem zeitgemäßen, humorvollen Facebook-Auftritt ist oder in einem zugleich menschlichem und klugem Statement eines Christenmenschen in einer Polit-Talkshow.

Von der „Kirche für andere“ hat Bonhoeffer gesprochen. Hier sind allerdings noch die einen „die Gebenden“ und die anderen „die Nehmenden“. Wenn man miteinander lebt, muss es eigentlich mit Theo Sundermeier eigentlich eher „Kirche mit anderen“ heißen. Genauso haben wir es vor einigen Wochen bei einem Projekt erlebt. Aus dem ursprünglichen Arbeitstitel „Aktionstag für Flüchtlinge“ in unserer Stadt wurde ein „Aktionstag mit Flüchtlingen“. Und das war nicht ein unbedeutender Wechsel der Präposition. Das war Kirche.

[Bild: Neil Howard, Flickr Creative Commons License, Ausschnitt)

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7 Kommentare

  1. Dein persönliches Schluss-Fazit gefällt mir sehr. Auch, weil ich da die legendäre Defizitorientierung christlicher Verkündigung überwunden sehe …

  2. Horst Weihmann

    Kirche ist dort, wo Jesus Christus das Haupt der Gemeinde ist.

    Entfernen wir uns von Jesus Christus, stirbt die lebendige Kirche und wird zu Religion und Moral.

    Wir müssen wieder persönlich zurückkehren zu Jesus Christus.
    Wir folgen einer göttlichen Person Jesus Christus und heißen auch deshalb
    Christen

  3. Horst Weihmann

    Warum wurde die evangelische Kirche zu einer bedeutungslosen Volkskirche.
    Die Menschen merken es ob wir Christus predigen aus Überzeugung
    oder Moral predigen.

  4. Horst Weihmann

    Wie bleibt die evangelische Kirche eine bedeutungsvolle Volkskirche.

    Die Menschen wollen Pfarrer die Christus predigen aus Überzeugung.

    Entschuldigung so ist es richtig.

    • Darum bemühe ich mich. Und andere auch. Früher genauso wie heute. Dass es aber auch Faktoren gibt, die außerhalb dessen liegen, davon handelt der obige Artikel.

  5. Horst Weihmann

    Die Gnade des Herrn Jesus sei mit Dir.

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