In den letzten zwei Wochen habe ich mich im Aushalten und Zuhören, im Mitleiden und Ertragen, im Schweigen und im Nicht-Kommentieren geübt. Auch wenn es äußerlich einigermaßen gut geklappt hat, war es zum einen nicht einfach und zum anderen muss ich zugeben, dass all die Emotionen, die auch mein Herz in diesen Tagen und Wochen unruhig machen, manchmal dafür in privaten Settings Raum gefunden haben. Irgendwo müssen sie ja auch hin. Vorgestern konnte ich bei einem interreligiösen Gebet zum ersten mal auch weinen – vorher hatte das irgendwie noch gar keinen Platz gehabt. Aus mindestens drei Gründen habe ich versucht, erst einmal eine Weile hier nichts zu schreiben:
Der eine und erste ist der Respekt vor den Opfern. Es gibt eine Geschichte des Konflikts – das stimmt und das ist wichtig und richtig und darüber wird zu reden sein. Aber innerhalb dieser Geschichte gibt es Ereignisse und Taten, die als Akte der Unmenschlichkeit auch für sich stehen in ihrer Grausamkeit. Srebrenica und Bucha werden in diesen Tagen oft als Vergleich genannt. Vergleiche sind immer schwierig, aber der Gedanke ist glaube ich klar: es gibt ein Gebot der Menschlichkeit, dass manches, was gesagt werden muss, nicht zu jedem und gerade zu diesem Zeitpunkt gesagt werden muss. Das ist ja auch das Hauptproblem mit Slavoj Žižeks Rede, an der inhaltlich durchaus vieles richtig war. Viele von euch haben die Kritik von Meron Mendel an dieser Rede geteilt, der ich (einmal wieder) nur von Herzen zustimmen kann. Zivilisatorische Tiefpunkte wie diesen sofort zu kontextualisieren, darin steckt auch eine Gefahr oder zumindest ein Mangel an Mitmenschlichkeit, die wir in Zeiten wie diesen nun am allerwenigsten verlieren dürfen.
Der zweite Grund ist, dass ich mich selbst inzwischen ganz gut kenne. Ich reagiere, wenn mich etwas emotional berührt, oft zu schnell. Warte nicht noch die eine Nacht ab, um auf eine email zu reagieren. Bin zu schnell bei meinen eigenen Emotionen, meinen Erfahrungen, meinem (vermeintlichen) Wissen. Überschätze die Ausgereiftheit meiner eigenen Position. Das alles macht mich dann zu einem schlechteren Zuhörer als ich es sein könnte. Es macht meine Kommentare im Ton bissiger und weniger mitfühlend. Es macht mein Reden selbstgerechter und weniger fragend.
Der dritte Grund ist einer, der aus meiner Arbeit mit Trauernden erwachsen ist: Nicht selten erlebe ich Wut, Ärger und Unverständnis bei Menschen in Trauersituationen. Es fallen oft auch Worte, die man mit etwas mehr Abstand so nicht sagen würde. Sie sind direkter, klarer, ungeschliffener. In diesen Momenten kommentiere ich in meiner Rolle als Seelsorger diese Worte aber nicht und bemühe mich auch nicht um Glättung oder Relativierung der Aussagen, sondern versuche, den Raum offenzuhalten für das, was jetzt in diesem geschützten Rahmen gesagt werden muss. Momentan kommentieren sehr viele Menschen sehr vieles. Deshalb ist es schwieriger, diesen Raum für die direkt Betroffenen offenzuhalten. Aber mein Empfinden war und ist schon: Es gibt andere, die jetzt erst sprechen dürfen. Im Licht dieser Erfahrung von Trauersituationen gilt für mich jetzt auch, dass ich von direkt Betroffenen nicht dasselbe Maß an Ausgewogenheit in Statements einfordern kann wie ich das von mir selbst erwarte. Und in gewisser Weise (und das ist auch eine Besonderheit hier) ist jede:r Israeli und jede.r Palästinenser:in fast direkt betroffen, weil jede:r jemanden kennt, die oder der entweder jetzt oder in der Vergangenheit ermordet wurde, als Geisel genommen wurde, inhaftiert wurde oder explizite Gewalt erlebt hat. Man versteht es glaube ich nur, wenn man einmal in diesem kleinen Land mit dieser vergleichsweise geringen Bevölkerungszahl gelebt hat. 1500 Tote und über 200 Geiseln in Israel – jede:r kennt jemanden, die/der jemanden kennt. Tausende Tote und zigtausende Verletzte in Gaza – jede:r kennt jemanden, die/der jemanden kennt. Selbst in der Westbank, wo ich gelebt habe, deutlich mehr Tote und Übergriffe als sonst – jede:r kennt jemanden, die/der jemanden kennt. Mit abnehmenden Grad der Betroffenheit steigt dann auch der Verantwortungsgrad für die Wahl unserer Worte. Aber ich plädiere eben auch für Barmherzigkeit mit denen, bei denen wir spüren, wie groß ihr Schmerz ist und die ihn nicht unmittelbar ausgewogen artikulieren können/wollen/müssen/sollen.
Viele von euch haben mir in diesen zwei Wochen geschrieben oder mich gefragt, was ich gerade denke oder wie ich mich fühle. Wenn ich jetzt in den nächsten Tagen den Versuch (mit euch) starten möchte, in dieser Weise zuhörend, vorsichtig, fragend mich vorwärts zu bewegen, dann ist das voller Risiken. Man könnte z.B. zurecht anmerken, warum wir nicht alle miteinander anstelle von zwei Wochen vielleicht besser zwei Monate oder zwei Jahre den Mund halten sollten. Es gibt hier vermutlich kein richtig und kein falsch. Und auch mir wird vermutlich meine oben beschriebene Haltung, die ich einüben möchte, nicht immer gelingen. Ihr dürft mich dann daran erinnern, wenn es euch auffällt. Und wenn ihr mögt – und das wäre meine Einladung – dann könnt ihr euch mit mir darin einüben. Es wird gerade so viel geschrieben und erzählt. Und dabei ist auch ganz viel Kluges, Weiterführendes, Hilfreiches (natürlich nicht nur; das hier ist ja das Internet). Wenn ihr schon genug gesehen und gelesen zum Thema habt, haltet euch nicht mit meinem Kram auf. Es ist hier eher mein Versuch, mein eigenes Fragen und Weitergehen zu formulieren und das geht für mich einfach immer besser in Resonanz mit anderen.
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