Der Gerichtspräsident des Amtsgerichts Saarbrücken hat Kreuze aus seinen Sitzungssälen entfernen lassen. Und sofort flammt die Debatte um das Kreuz im öffentlichen Raum wieder auf, die ja in den 90er Jahren besonders im Hinblick auf Klassenzimmer geführt wurden. Die einen argumentieren mit der weltanschaulichen Neutralität des Staates, die anderen fürchten um den Untergang des christlichen Abendlandes und ziehen ihrerseits mit dem Kreuz im Gepäck in einen Kulturkampf. Und dabei kommt es zu einem für mich fast kuriosen Streit um die Deutungshoheit dieses Symbols.

Denn das Kreuz ist ja zunächst ein Symbol. Und Symbole sind bedeutungsoffen – oder zumindest bedeutungsreich. In jedem Fall ein religiöses Symbol wie das Kreuz. Denn im Unterschied z.B. zu einem Verkehrszeichen liegt die Deutung von einem Symbol wie dem Kreuz ja eben auch im Auge des Betrachters. Wäre ein Verkehrszeichen bedeutungsoffen, hätte es vermutlich ganz katastrophale Folgen. Beim Kreuz ist der Spielraum dessen, was man unter diesem Symbol verstehen kann, deutlich größer. Inwiefern auch in aktuellen Stellungnahmen von Christen-Menschen dem Kreuz ganz Unterschiedliches zugeschrieben wird, dazu unten mehr. Gerade im Hinblick auf religiöse Symbole lässt sich nachvollziehen, dass diese sich auch nicht rein rational interpretieren lassen, sondern immer auch einen Bedeutungsüberschuss in sich tragen, der sowohl kulturell gefärbt ist als auch für den einzelnen Betrachter oft emotional belegt ist. Vielleicht erklärt dies auch die Intensität der Debatte an manchen Stellen.

Der Deutungsreichtum des Kreuzes zeigt sich schon daran, dass dieses nicht erst seit dem Tod Jesu Christi als Symbol in Gebrauch ist. Schon aus der Steinzeit finden sich Belege – wahrscheinlich schon damals als religiöses Symbol und Zeichen der Verbindung von Himmel und Erde (Horizontale und Vertikale). Das Christentum hat also mitnichten eine alleinige Deutungshoheit über das Kreuz. Auch in anderen Zusammenhängen begegnet es uns ja heutzutage in Landesflaggen, bei Hilfsorganisationen, als Hoheitszeichen wie der Bundeswehr u.v.m. Nicht alle dieser Kreuze sind religiös zu deuten, zuweilen haben sie aber zumindest religiösen Ursprung.

Das Christentum hat keine Deutungshoheit über das Kreuz.

Eine Debatte über den Deutungsgehalt des Kreuzes ist also zum einen unumgänglich, zum anderen kann sie aber gar nicht letztgültig entschieden werden, weil niemand die Deutungshoheit über dieses Symbol hat. Letztlich bleiben auch Entscheidungen über die Präsentation des Kreuzes in der Öffentlichkeit Abwägungsfragen, die den gesellschaftlichen Diskurs brauchen. Deshalb finde ich kirchliche Stellungnahmen, die das Abnehmen von Kreuzen „bedauern“ (und nicht verurteilen), insofern in Ordnung, weil sie ausdrücken, dass die Institution Kirche sozusagen traurig darüber ist, dass Religion in unserer Gesellschaft (und dann eben deutlich sichtbar auch an manchen Orten) an Bedeutung verliert. Dass ich diese Weinerlichkeit von Kirche, die sich und ihren Bedeutungsverlust in der pluralen Gesellschaft immer nur wieder selbst bedauert, persönlich nicht besonders mag, steht auf einem anderen Blatt.

Wo stehe ich selbst? Wie verstehe ich das Kreuz? Ich bin nahe bei Margot Käßmann (das hat Seltenheitswert) und Nikolaus Schneider – allerdings ohne zwingend ihre Folgerungen zu teilen (beide sind Verfechter des Kreuzes im öffentlichen Raum): Sie verstehen das Kreuz nicht als Zeichen der Macht, sondern der Ohnmacht und des Leids. Nikolaus Schneider weist darauf hin, dass das Kreuz für alle im Gerichtssaal Beteiligten eine wertvolle Erinnerung sein kann: Dem Richter, dass er keine endgültigen Urteile fällt. Und dem Angeklagten, dass seine mögliche Verurteilung noch nicht das letzte Wort ist.

Das Kreuz kann verstanden werden gerade nicht als Zeichen der Macht, sondern der Ohnmacht.

Dem kann ich viel abgewinnen. Ich würde Richtern und Angeklagten diese Perspektive wünschen. Nur befürchte ich aufgrund der Vielfalt der möglichen Deutungen (siehe oben) und auch der Wirkungsgeschichte des Kreuzes (z.B. auch in gewaltsamer Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Religionen), dass sich diese Deutung von Käßmann/Schneider nicht unbedingt jedem naheliegt, der ein Kreuz in einem Gerichtssaal über dem Richter angebracht sieht. Auch auf mich macht dies eher den Eindruck als Symbol der Autorität und Macht als der Ohnmacht.

Ein Gedankenspiel: Was wäre passiert, hätte der Gerichtspräsident in Saarbrücken auf der Begründungslinie von Nikolaus Schneider das Kreuz nicht abhängen, sondern umhängen lassen? So dass es nicht mehr hoch oben hängt, sondern so, dass der Gekreuzigte auf Augenhöhe für alle Anwesenden zu hängen käme? Nicht mehr über dem Richter, sondern so, dass das Kreuz sowohl für den Angeklagten als auch für den Richter zu sehen wäre?

Hätten sich die rechtgläubigen Retter des christlichen Abendlandes dann genauso echauffiert? Hätten sie gerufen, dass der Gekreuzigte von seinem Thron gestossen und in Ecke gedrängt worden sei? Oder hätten sie erkannt, dass er uns genau damit eigentlich ganz nahe gekommen wäre?