Überall wird zurzeit von Netzwerken gesprochen. Der Begriff ist als Schlüsselkategorie gesellschaftlicher Analyse allgegenwärtig. Er suggeriert Flexibilität, Modernität und Innovationskraft. Wenn man im Hinblick auf die Organisation und Institution Kirche von einem Netzwerk sprechen möchte, steht man damit unmittelbar im Verdacht, längst bekannte Strukturen und Kommunikationsmöglichkeiten lediglich neu etikettieren zu wollen. Dabei muss man allerdings beachten, dass auch „Institution“ und „Organisation“ soziologische Begriffskategorien sind, die Kirche immer nur unter bestimmten Aspekten in den Blick nehmen.

Im Kontext Kirche wird der Netzwerkbegriff sehr unterschiedlich verwendet: Manchmal einfach als unbestimmte Metapher z.B. in Anknüpfung an das biblische Bild vom Netz (Joh 21). Dann aber auch im Anschluss an soziologische Netzwerktheorien oder in Analogie zu Neurowissenschaften, dem Internet oder anderen netzwerkartigen Phänomenen. Der Begriff bietet ein vergleichsweise einfaches Bild, denn schließlich besteht ein Netzwerk lediglich aus Knoten und Verbindungen. Dies führt dazu, dass er ausgesprochen anschlussfähig ist, zugleich aber auch in der Gefahr steht, als Modewort unscharf zu werden. Trotzdem könnte er geeignet sein, das komplexe Gebilde Kirche zu versinnbildlichen.

Bounded set, centered set und fuzzy set

bounded setPrägend für die Wahrnehmung von Kirche insbesondere als Volkskirche ist in der Vergangenheit nun aber nicht die Vorstellung von Kirche als Netzwerk gewesen, sondern vielmehr die von Kirche als einem Verein oder einer Organisation. Aus meiner Sicht kann dies als bestimmendes Paradigma die Vieldimensionalität von Kirche, die sich auch im Neuen Testament in einer Vielzahl von Bildern und Metaphern ausdrückt, gerade nicht aufnehmen. Der US-amerikanische Anthropologe Paul Hiebert hat dieses Denken als „bounded set“ beschrieben: Klare Grenzen bestimmen an den Rändern, wer sich zugehörig fühlen darf und wer nicht. Eine innere Mitte dagegen ist nicht auszumachen. In unserem Land zeugt die auf der Lohnsteuerkarte eingetragene Mitgliedschaft in einer der Großkirchen von einem solchen Verständnis von Kirche. Die Mitgliedschaft berechtigt – auch durch die Zahlung des durch den Staat eingezogenen Beitrags (Kirchensteuer) – zu bestimmten Leistungen wie kirchlichen Hochzeiten, einer christlichen Bestattung und ggf. eines jährlichen Geburtstagsbesuches im Alter. Ausnahmeregelungen für Trauungen konfessionsverschiedener Ehepartner oder Bestattungen Ausgetretener zementieren als solche lediglich das vereinsrechtliche Denken.

centered setDagegen favorisiert Hiebert für das sog. „centered set“: Hier wird die klare Grenzziehung zwischen „innerhalb“ und „außerhalb“ zugunsten einer deutlichen Mitte aufgehoben. Dieses Zentrum ist für das ganze System identitätsstiftend. Als „centered set“ kann u.a. das Kirchenverständnis der Reformatoren mit seiner Konzentration auf Wort und Sakrament beschrieben werden. Dieses macht sich ausdrücklich nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte der Kirche fest. Das wiederum eröffnet eine große Weite, wie Kirche Gestalt gewinnen kann. Schon von diesem Bild aus kann gefragt werden, ob eine Auflockerung des bestehenden volkskirchlichen Mitgliedschaftssystems im Sinne des „bounded set“ sinnvoll sein könnte, um eine differenzierte Zugehörigkeit zu ermöglichen.

Die australischen Theologen Michael Frost und Alan Hirsch bringen den Unterschied zwischen beiden Modellen auf die Formel „Brunnen graben statt Zäune ziehen“. Dabei stellen sie eine Tierhaltung mit einer festen äußeren Begrenzung (Zaun) einer solchen gegenüber, die auf Zäune zugunsten des Grabens eines Brunnens verzichtet, der dafür sorgt, dass das Vieh in einer Reichweite verbleibt, die zum Leben notwendig ist.

Netzwerk-ParadigmaDie Begriffe „bounded set“ und „centered set“ entstammen nun interessanterweise ursprünglich nicht der Theologie, sondern der Ordnungstheorie. Und diese bietet noch ein drittes Modell, nämlich dass des sog. „fuzzy set“ (fuzzy = verschwommen). Für Hiebert in seiner Unübersichtlichkeit und Unschärfe keine ernsthafte Option, um Kirche adäquat zu beschreiben, könnte es meiner Ansicht nach dennoch im Kontext der Netzwerktheorie ein Verstehensmodell für Kirche bieten. Kennzeichnend ist hier, dass es weder Grenzen noch ein eindeutiges Zentrum gibt. Theologisch weitergeführt kann es auch als „relational set“ (Doug Pagitt) oder „network paradigm“ (Dwight J. Friesen) bezeichnet werden. Die Pointe in diesem Modell ist, dass es das Hauptaugenmerk auf die Verbindungen zwischen den einzelnen Punkten richtet.

Während das „centered set“ mit seinem statischen Zentrum und dem Fokus auf den jeweils einzelnen Gläubigen eine christologische und individualistische Engführung kennzeichnet, nimmt das Netzwerk-Paradigma den Menschen in seiner Sozialität wahr und kann die pneumatologische (Geist-) Dimension von Kirche deutlicher ausdrücken: Christus ist nicht nur außerhalb der Gläubigen als deren Gegenüber, sondern im Heiligen Geist in und zwischen ihnen. Das Bild des Apostels Paulus vom Leib Christi ist hier eng verwandt, weil auch in ihm Christus in der Bezogenheit aufeinander (in den gottgegebenen Gaben, die im Dienst füreinander eingesetzt werden) gedacht werden kann.

Weitere Implikationen des Bildes von Kirche als Netzwerk

Das Bild von Kirche als Netzwerk kann auf diese Weise also aus einer für die Moderne typischen individualistischen Engführung befreien. Einige weitere Implikationen der Anwendung des Netzwerkbegriffes auf die Kirche seien angedeutet:

In Netzwerken hängt alles mit allem zusammen. Auch die Kirche bekommt ihre Identität in erster Linie durch Konnektivität und nicht durch ihre Spitze. Im günstigsten Fall bestimmen nicht charismatische Führungspersönlichkeiten Wesen und Gesicht von Kirche, sondern charismatische Gemeinschaften. Neurowissenschaftlich kann gesagt werden, dass sich die Stärke der Verbindungen zwischen Neuronen steigert, wenn sie immer wieder genutzt werden. Intelligenz entsteht durch Training des Netzes. Auch der Gesundheitszustand von Kirche bemisst sich an der Qualität der Beziehungen ihrer Mitglieder untereinander.

Netzwerken fehlt ein klares Zentrum genauso wie eine Hierarchie. Insofern stellt sich die Frage nach der Aufgabe von Kirchenleitung. Im Bild des Netzwerkes kommt ihr zunächst die Aufgabe zu, Beziehungen und Kommunikation zwischen Einzelnen zu ermöglichen. Eine Anzahl von Menschen in einem Raum ergibt ebenso wenig eine Gruppe wie eine Anzahl von Punkten schon ein Netzwerk bildet. Kirchliche Leitung kann dabei von verschiedenen Punkten des Netzwerkes aus geschehen und ermöglicht so auch Handlungsmöglichkeiten für verschiedene Persönlichkeitstypen: Leitung von den Rändern des Netzwerkes (durch stetige und gewissenhafte Führungspersönlichkeiten) ist ebenso möglich wie z.B. durch Clusterbildung innerhalb des Netzwerkes (charismatische Führungspersönlichkeiten). Aufgabe kirchlicher Leitung ist es dann auch, Austauschprozesse zwischen Teilsystemen in Gang zu bringen.

In Netzwerken gilt zudem das Prinzip der Subsidiarität. Das Wissen zur Erledigung von Aufgaben liegt bei den ausführenden Einheiten. Kompetenz und Kreativität ist in Netzwerken oft an den Rändern zu finden und so ergibt sich die Aufgabe, gerade zu Menschen an den Rändern Beziehungen zu entwickeln und dort Potentiale zu entdecken.

(Dieser Beitrag ist ein überarbeiteter Teil des Artikels „Kirche als soziales Netzwerk – Kirche in sozialen Netzwerken“, der in der Zeitschrift Praktische Theologie erschienen ist und z.B. hier nachzulesen ist. Das Titelbild (Ausschnitt) stammt von stefanos papachristou und ist bei Flickr unter der Creative Commons License bereitgestellt.)