Kinder brauchen Grenzen?

Jahrelang stand ein Buch mit diesem Titel in unserem Regal. Allerdings ohne das Fragezeichen. Ich kann mich gar nicht genau erinnern, ob ich es je gelesen habe. Aber der Titel wurde irgendwie unter der Hand zu einer Selbstverständlichkeit: Klar, Kinder brauchen Grenzen. Die Alternative – eine Erziehung ohne Regeln und klare Grenzen – erschien wenig sinnvoll. Und so meinte ich in den ersten Jahren als Vater meinen Kindern Gutes zu tun, indem ich möglichst konsequent, unnachgiebig und hart die Grenzlinien verteidigte, die ich vorher an mir irgendwie sinnvoll erscheinenden Stellen gezogen hatte.

Vor gut einem Jahr bei einem Treffen, bei dem wir uns mit dem Thema „Gewaltlosigkeit“ auseinandergesetzt haben, habe ich diese Erinnerung an die Kleinkindphase unserer ersten Tochter aufgeschrieben:

Unsere Tochter ist zwei. Vielleicht drei. Regelmäßig bekommt sie Anfälle von Wut und Traurigkeit. Wenn das passiert, dann steigert sie sich immer mehr in ihre Situation hinein. Sie weint dann und schreit und weint und schreit. Und weint und schreit. Als Eltern sind wir ratlos. Hilflos.
Mich macht ihr Verhalten aggressiv. Ich verstehe sie nicht. Ich halte diese Situationen auch nicht mehr aus. In meinen Gedanken tue ich ihr Gewalt an.
In unserer Not haben wir einen Ort gesucht und gefunden, an den wir sie zur Strafe bringen. Das Gästeklo. Es ist schon zum geflügelten Androhungs-Wort geworden: „Wenn du jetzt nicht aufhörst, bringen wir dich aufs Gästeklo.“ In keinem Fall hat ihr diese Androhung bisher geholfen, aus der Spirale ihrer Wut herauszufinden.
Das Gästeklo. Was für ein furchtbarer und unangenehmer Ort für eine Bestrafung! Demütigend. Heute frage ich mich, wie wir darauf gekommen sind. Für sie ist es die Höchststrafe, dort alleine gelassen zu sein. Gerade das kann sie nicht ertragen. Sie will schreien. Sie will weinen. Aber sie will bei uns sein.
Wir schließen nicht ab. Wir lassen die Tür auf. Aber sie ist dann dort allein.
An einem Tag ist es besonders schlimm. Die Androhung „Gästeklo“ ist ausgesprochen. Sie schreit weiter. Jetzt werde ich das Angedrohte umsetzen. Ich muss meine Tochter greifen. Festhalten. Ziehen. Sie schreit. Ich schreie. Irgendwie endet die Situation im Gästeklo. Heute weiß ich nicht mehr wie.
Abends fühle ich mich schlecht. Ich sehe die Situation noch einmal vor meinem inneren Auge. Die Angst in den Augen meiner Tochter. Ja, Angst – vor mir als ihrem Vater.
Ein Mädchen, das Angst vor ihrem Vater hat. Und ich bin der Vater. Ich habe meine Macht missbraucht. Ich habe Gewalt ausgeübt und sie hat in mir ihren Feind gesehen. Mein Erschrecken über mich selbst ist tiefer, als ich selbst in diesem Moment zulassen und ertragen kann. Aber ich weiß, dass das nicht sein darf. Dass ich ein anderer werden will.
Beim nächsten Mal versuchen wir unserer Tochter unsere eigene Not zu erklären. Sie ist so überrascht über unseren ruhigen Tonfall, dass sie kurz mitten im Schreien innehält: „Wir wissen gerade nicht, was gut für uns alle ist. Es ist schwer für uns auszuhalten, dass du so schreist. Aber wir wollen dich nicht alleine lassen. Wir wissen, dass du bei uns sein willst, wenn du so wütend bist. Wir gehen jetzt aufs Gästeklo und du kannst mitkommen.“
Tatsächlich folgt sie uns. Und dann sitzen wir gemeinsam auf den kalten Fliesen auf dem Fußboden. Sie schreit weiter. Aber wir sitzen dort gemeinsam. Und warten. Bis das Schreien verebbt und In-den-Arm-Nehmen wieder möglich ist.
Viele Male haben wir noch dort gesessen. Auf dem Gästeklo. Es ist kein Allheilmittel geworden. Taugt wohl auch nicht für ein Erziehungsbuch. Aber es ist ein möglicher Weg für uns geworden. Und ich habe die Angst in den Augen meiner Tochter nie wieder gesehen.

Je länger ich Vater bin, desto weniger glaube ich, dass für Kinder in erster Linie Grenzen wichtig sind, sondern vielmehr eine verlässliche, liebevolle Beziehung zu den eigenen Eltern. Applaus gibt es aber oft für Ersteres: Es wird gutgeheißen, wenn Babies auch mal schreien gelassen werden. Es wird bewundert, wenn man sich nicht von einmal getroffenen Entscheidungen durch irgendwelche Anstalten der Kinder abbringen lässt.

Heute verstehe ich, dass ich in meinem Versuch, möglichst konsequent zu sein und keinen Millimeter von meiner Linie abzuweichen, meiner Tochter Wunden zugefügt habe. Ich habe mir vorgemacht, dass das, was sonst schlichtweg Starrköpfigkeit genannt wird, liebevolle Konsequenz sei. Eine Grenze hätte mir selbst gut getan an der Stelle, an der ich das Prinzip der Gewaltlosigkeit überschritt.

Was ich meinen Kindern heute wünsche, ist gerade nicht, dass sie sich in ihrem Leben möglichst gehorsam innerhalb einer Box von (zum Teil ja willkürlich durch andere Menschen gesetzten) Grenzen bewegen. Dass sie sich aus Angst vor Strafen nicht trauen, von anderen Gebotenes in Frage zu stellen. Und eigene Grenzen immer neu zu überschreiten. Das, was heute zum Teil Respekt genannt wird, ist eigentlich Unterordnung aus Angst. Und die Rebellion gegen willkürlich gesetzte Grenzen von sog. Autoritäten ist nicht immer das viel zitierte „Austesten“ von Grenzen, sondern schlichtweg der Kampf um die eigene kindliche Würde und die Artikulation der Frage, ob in mir als Vater noch ein Herz für mein Kind schlägt.

Als Vater möchte ich meinen Kindern nicht immer neue Grenzen im Leben setzen, sondern ganz im Gegenteil verlässlich an ihrer Seite sein, wenn sie Grenzen überschreiten. Ich möchte, dass sie wissen, dass sie nicht darin einen Halt haben, dass ich ihnen eine Box aus Regeln gebaut habe, in der sie nun festsitzen, sondern dass unsere Beziehung zueinander absolut sicher ist. Und aus dieser Sicherheit ist dann Entwicklung möglich – und zwar genau im Überschreiten von Grenzen und von bisher Gewohntem. Denn entwickeln kann sich ja nur der, der bisher gewohnte Bereiche überschreitet – und wer an dem Punkt durch verlässliche liebevolle Beziehungen gestützt ist und im Notfall jemanden hat, der die eigene Hand ergreift, der darf sich glücklich schätzen.

Kinder brauchen Grenzen? Mag sein – an manchen Stellen. Auf jeden Fall zum Überschreiten. Aber viel mehr noch verlässliche, liebevolle Beziehungen. Zum Aufbruch in neues Land.

(Hinweisen möchte ich auf diesen wunderbaren Beitrag von Vivian Dittmer, aus dem ich ganz viele Ideen hier zum Teil in ihren, zum Teil in meinen Worten weitergegeben habe. Entdeckt habe ich ihn über marthori, von dem vor allem der letzte Gedanke über Grenzen und Entwicklung stammt.)

← Vorheriger Beitrag

Nächster Beitrag →

5 Kommentare

  1. Das hat mich ziemlich doll berührt. Weil ich das nicht von euch wusste und weil es so schön ist, zu lesen, dass du jetzt aus diesem Blickwinkel heraus mit den Mädchen umgehen kannst. Aber auch wegen meiner eigenen Pubertät und einigen Grenzen, gegen die ich keine Chance hatte.

  2. Getroffen

    Sehr wahr, leider erkenne ich mich z.T. wieder.

    Wir brauchen ein alternatives Buch: Kinder brauchen Liebe, Verlässlichkeit, Sicherheit, Orientierung…

    Vielleicht brauchen Kinder – auch – Grenzen. Aber auf der Liste dessen, was Kinder brauchen, stehen Grenzen sicherlich nicht an erster Stelle. Wichtig ist, wie viele Grenzen, wie setze ich die Grenzen ggf. durch, setze ich sie immer durch oder weiche ich bei vernünftigen Gegenargumenten davon ab …

    Je länger ich schreibe, desto nachdenklicher werde ich. Was „brauchen“ Kinder eigentlich?

  3. Carla

    Hallo Simon,
    Ich duze dich, da ich dich noch als kleines Kind in Ostrhauderfehn kenne.
    Heute hat ein Freund (Holger Juppien) mir eine Andacht geschickt, die mich sehr berührt hat. Im Austausch mit Holger hat er mir dann deinen Kontakt geschickt, so bin ich dann auf diesen Bericht gestoßen, als Pädagogin und selbst Mutter bin ich rief beeindruckt von deiner EhrlichkeitHerzlichen Dank, dass ich den Artikel lesen durfte, werde ihn im Srbeitskontext sicherlich noch häufiger weiterleiten.
    Schicke aus Leer Liebe Grüße
    Carla van der Pütten-Müller
    (gerne auch einen Gruß an Deine Eltern).

  4. Liebe Carla – das ist ja was! An Deinen Namen konnte ich mich erinnern, aber mein Vater musste mir helfen, Dich wieder richtig einordnen zu können. Und dass Du dann diesen alten Artikel gefunden hast – ich musste ihn jetzt selbst nochmal lesen. Inzwischen sind die beiden Mädels Teenies – mit neuen Herausforderungen, aber sie sind ganz wunderbare Teenies und sowieso sind es ja vor allem die Eltern, die in der Phase komisch werden. Ich arbeite weiter an mir :-)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert