In den vergangenen drei Wochen haben wir als Kirchengemeinde ein Experiment gewagt. Wir haben unsere Gottesdienste am Sonntagvormittag nicht in der Kirche gefeiert, sondern an ungewöhnlichen Orten: in einem Buchladen, in einem Friseursalon und in einer Sparkasse in unserem Stadtteil.
Warum? Weil uns die Vernetzung im Stadtteil wichtig ist. Weil Kirche nicht hinter ihren eigenen Mauern bleiben muss. Und weil wir wissen wollten, was es mit uns, unserem Gottesdienst und unserer Botschaft macht, wenn wir das alles jeweils in neuen Kontexten buchstabieren müssen.
Das Experiment stieß auf große Resonanz – sowohl was die Öffentlichkeit anging als auch im Hinblick auf die Anzahl der Besucherinnen und Besucher. Die Reaktionen vor dem Start bildeten das ganze Spektrum von Skepsis bis Begeisterung ab. Am Ende überwog deutlich Letztere. Für mich war nach dem letzten der drei Gottesdienste so etwas wie Aufbruchstimmung zu spüren, obwohl das Experiment ja eigentlich gerade zu Ende gegangen war. Das führt mich dazu, an dieser Stelle noch einmal den Versuch zu wagen, genauer darauf zu schauen, was in den letzten drei Wochen eigentlich (mit uns) passiert ist. Meine Ahnung ist: Wir haben im Kleinen etwas von dem erlebt, wie Kirche auch in Zukunft sein könnte.
Der Charme des Lokalen
Viele von uns wissen heute nicht mehr, wie der Glaube eigentlich praktisch Gestalt gewinnen kann. Klar, man kann dies glauben oder das glauben, aber was ändert das wirklich praktisch in meinem Leben? Und was ändert es in deinem Leben? Von unserem Nachbarn, oft selbst von unseren Freunden wissen wir gar nicht, was der Glaube ihnen bedeutet oder ob er für ihren Alltag eine Rolle spielt. Eine Ausnahme sind vielleicht die handvoll Kirchgänger am Sonntagmorgen, die immerhin durch diesen treuen Gang nach außen dokumentieren, dass ihnen offenbar in dieser Hinsicht etwas wichtig ist. Und auch wenn wir eine Ahnung davon haben, dass wir den Glauben und Gott und die Kirche doch noch nicht ganz aufgeben wollen, fehlen uns aber oft die Worte dafür, das auszudrücken.
Wenn dann aber doch Nachbarn, Bekannte, Freunde anfangen, von sich zu erzählen – von ihrem Glauben, aus ihrem Leben, von Dingen, die ihnen wirklich wichtig sind – dann erzeugt dies ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Und an dieser Stelle ist dann gerade nicht entscheidend, dass diese Worte besonders rund, druckreif und wohlgeformt sind. Ihre Relevanz bekommen sie dadurch, dass da jemand spricht, der genauso oder genauso wenig religiös erscheint wie ich, der genauso geübt oder wenig geübt ist vor Leuten zu reden wie ich und der aber auch genauso etwas aus dem eigenen Leben zu erzählen hat wie ich.
In unseren Gottesdiensten sind die jeweiligen Gastgeber und weitere Gäste zu Wort gekommen. Sie haben erzählt über ihre Motivation, verschuldeten Menschen zu helfen; über Veränderungen in ihrem Leben, die sich durch Krankheiten ergeben haben; über Bücher, die sie berührt haben. Befragt wurden sie von Moderatorinnen und Moderatoren, die genau das noch nie zuvor im Leben gemacht hatten. Und es war großartig.
Eine Kirche von morgen ist für mich eine Kirche, in der Stimmen zu hören sind, die bisher noch nicht zu hören waren.
Geschichten erzählen
Das bringt mich direkt zu einer nächsten Beobachtung: Als Christen (vor allem auch in unserem Ursprung im Judentum) sind wir eine Religionsgemeinschaft, die wesentlich eine Erzähl-Gemeinschaft ist. Unsere Anfänge liegen im Weitergeben von Geschichten. Die Bibel ist ganz wesentlich eine Sammlung von Geschichten, die Menschen mit Gott erlebt haben.
Heute verbinden Menschen mit dem Christentum häufig ein bestimmtes Set an Werten. Manche orientieren sich auch an bestimmten Dogmen oder Glaubenskernsätzen, zu denen man sich bekennt oder auch nicht. Wieder andere denken von der Praxis her: Christen sind die, die jeden Sonntag in die Kirche rennen (by the way: Ich hab noch nie jemanden in unsere Kirche „rennen“ sehen).
Das Erzählen von Geschichten spielt eher weniger eine Rolle. Das ist schade. Wenn aber Leute beginnen, ihre ganz eigene(n) Geschichte(n) mit Gott zuerst für sich zu entdecken, dann Worte dafür zu finden und schließlich anderen zu erzählen, dann steckt darin häufig eine unwahrscheinliche Kraft, eine berührende Zärtlichkeit, eine wunderbar ansteckende Natürlichkeit.
Eine Kirche von morgen ist für mich eine Kirche, in der wir uns die alten Geschichten und unsere Geschichten des Lebens und Glaubens wieder mehr erzählen.
Lernfähig bleiben
Ganz ehrlich: Die Vorbereitung der Gottesdienste haben wir zu spät angefangen. Wir hatten dann eigentlich zu wenig Zeit und wir hätten viel mehr Absprachen treffen können und sollen. Der Vorteil daran: Alles blieb im Werden und wir waren auch zwischen den Gottesdiensten noch sehr flexibel, weil wir eh noch nicht so weit in der Planung waren.
Und so haben wir Reaktionen aus den jeweiligen Gottesdienst-Gemeinden aufnehmen können. Zum Beispiel der Wunsch nach einem gemeinsamen Lied (wir hatten zugunsten der nicht geübten Gottesdienstbesucher zunächst aufs gemeinsame Singen verzichtet) oder der Wunsch nach Austausch im Gottesdienst mit Sitznachbarn über das Gehörte. Beides konnten wir in die jeweiligen nächsten Gottesdienste aufnehmen und es hat diese bereichert. So übernahm die Gemeinde in ihrem Mitdenken und in ihrem Einbringen von Impulsen Verantwortung für die Liturgie der Gottesdienste.
Eine Kirche von morgen ist für mich eine Kirche, die lernfähig bleibt und in der die ganze Gemeinde Verantwortung für eine lebendige Gottesdienstkultur übernimmt.
Eine Haltung des Dialogs
Wesentliches (und für unsere Gottesdienste ja eher ungewöhnliches) Element der Gottesdienste waren die Interviews, also Gespräche – ich habe es oben ja schon beschrieben. Aber auch in anderen Gottesdienstteilen wie der Predigt, die ich zu verantworten hatte, haben wir uns bemüht, das, was aus christlicher Perspektive einzubringen war, in einer Haltung des Dialogs zu sagen. Anknüpfend an das, was vorher schon gesagt worden war, auf die jeweiligen Orte und Umgebungen hörend/achtend, wenig Kirchliches vorraussetzend. Ich hoffe, dass das gelungen ist, denn diese Haltung ist mir unendlich wichtig. Nicht von oben herab zu predigen, nicht besserwissend, sondern auf Augenhöhe. Gerade auch mit Gesprächspartnern, die nicht aus einer religiösen Logik heraus sprechen und die meinen spezifischen Blick auf die Welt möglicherweise nicht teilen.
Eine Kirche der Zukunft ist für mich keine Besserwisserin, sondern hört gut zu (gute Zuhörerinnen sind nicht leicht zu finden).
Das Evangelium neu sagen
Dass Kirche zuerst zuhört, ist auch deshalb wichtig zu sagen, weil das nicht zu allen Zeiten ihr hervorstechendster Charakterzug gewesen ist. Als zweites gilt dann aber auch, dass sie gefragt ist, das ihr Eigene zur Sprache zu bringen. Wir sind als Christen gefragt, von dem zu erzählen, was uns Hoffnung gibt und leben und lieben lässt. Wir dürfen, sollen, können von dem reden, was wir lieben.
Und an dieser Stelle ist auch die Rolle der Theologinnen und Theologen wichtig. Wir brauchen dringend eine weniger pastoren-zentrierte Kirche – ein Vorhaben, an dem wir als Protestanten schon seit fünf Jahrhunderten irgendwie immer wieder scheitern. Das bedeutet aber nicht, dass wir keine gut ausgebildeten Theologinnen und Theologen brauchen. Genauso wie es eine zu starke Fokussierung auf Hauptamtliche/Amtsträger/Geistliche gibt, gibt es unter uns Pastoren selbst zumindest manchmal die Tendenz, sich gerade auf den falschen Feldern zu sehr zurückzunehmen. Gute Theologie im Ganzen der Gemeinde/Kirche halte ich für ziemlich wichtig auch im Hinblick darauf, welche gesellschaftlichen Gruppen heute alle „das Christliche“ für sich reklamieren.
In diesem Zusammenhang und in der oben beschriebenen dialogischen Haltung meine ich, auch für die Predigt werben zu dürfen. In den letzten Wochen und Monaten ist im Netz und an anderen Stellen (angeregt durch Hanna Jacobs Aufruf „Schafft die Predigt ab“) unter dem Hashtag #abgekanzelt viel über ein mögliches Ende der Predigt oder zumindest über die Grenzen dieser Gattung der Rede diskutiert worden. In den drei letzten Wochen habe ich mich beim Predigen ziemlich wohl gefühlt (natürlich nicht nur in den letzen Wochen). Es fühlte sich richtig an, 10 Minuten lang einen Gedankengang an diesen Orten ausführen zu können. Ich fühlte mich dafür ausgebildet. Ich fühlte mich mit den Zuhörenden verbunden, ich hatte das Gefühl, dass ich etwas für diesen Ort und diese Zeit Wichtiges sagen kann und ich fühlte mich im Chor der anderen Stimmen des Gottesdienstes gut aufgehoben.
Eine Kirche von morgen ist für mich eine Kirche, in der gut ausgebildete Theologinnen und Theologen ihre Kompetenzen und Gaben in guter Weise und fröhlich einbringen können, weil sie wie alle anderen in der Gemeinde auch etwas zu geben haben.
Co-Gastgeberschaft zulassen
Solange wir uns in unseren eigenen Räumen bewegen, sind wir Gastgeber, Hausherren, Regisseure des Geschehens, treffen letzte Entscheidungen und halten die Deutungskompetenz. Im Moment der Kooperation und des Verlassens unseres Ortes müssen diese Dinge neu bestimmt oder verhandelt werden. In unserem Fall war dies eher ein Vergnügen als eine Herausforderung, weil wir Co-GastgeberInnen hatten, die sich auf uns gefreut haben und in ihrem Engagement übersprudelten. In anderen Feldern sich veränderter Kirchlichkeit gibt es da deutlich mehr Kompetenzgerangel: Wer hat das Hausrecht und entscheidet z.B. über eine den Ablauf einer Trauerfeier, die nicht mehr in einer Kapelle auf dem Friedhof stattfindet, sondern in den Räumlichkeiten des Beerdigungsinstituts? Wie ist das mit Trauungen auf Privatgeländen an Seen – wer bestimmt dort die Rahmenbedingungen des Gottesdienstes?
Gerade Pastorinnen und Pastoren müssen an diesen Stellen schon aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen ihre jeweiligen Rollen neu finden. Sie sind nicht die einzigen LebensdeuterInnen, sie sind nicht die einzigen Anbieter auf dem Markt. Die Haltung der Verweigerung gegenüber jeglichen Co-Gastgeberschaften ist möglich, führt aber aus meiner Sicht nicht weiter. Gefragt ist hier einerseits wiederum die Bereitschaft zum Dialog und ein grundsätzliches Vertrauen, das „die anderen“ nicht als Konkurrenz, sondern als Partner wahrnimmt; zum anderen eine Klarheit in dem, was die eigenen Kompetenzen sind. Nicht die Rolle oder das Amt gibt mir heute als Pastorin oder Pastor mehr das Recht zu reden, sondern unter anderem oder vielleicht sogar vor allem anderen meine gegenüber den Zuhörerinnen und Zuhörern eingenommene Haltung.
Wir haben erlebt, wie die Gastgeberinnen und Gastgeber an den unterschiedlichen Orten sich unwahrscheinlich ins Zeug gelegt haben. Von ihnen waren im Übrigen die wenigsten besonders kirchennah. Aber schon vor dem Projekt bestand ein persönliches Vertrauensverhältnis untereinander. Dies war wichtiger als Kirchenmitgliedschaft oder die eigene Religiosität der Beteiligten. Dass diese dann sogar eigens ausgedrückt wurde, indem sich Gastgeber spontan noch innerhalb des Gottesdienstes an Gebeten beteiligten oder schon in der Woche vor der Veranstaltung mit dem Aufstellen eines großen Kreuzes ihre eigene innere Beteiligung an dem Geschehen zum Ausdruck brachten, war sehr berührend für mich.
Eine Kirche von morgen ist deshalb für mich eine Kirche, die sich aktiv, vertrauensvoll und angstfrei auf andere zubewegt und fragt, ob diese Partnerinnen und Partner der eigenen Sache werden möchten.
Gemeinsam aufbrechen
„Das darf jetzt nicht aufhören“, sagten einige nach dem letzten Gottesdienst. Eine Besucherin hat die Gemeinschaft so beeindruckt, so dass sie persönlich darüber nachdenkt, ihr Haus für andere Menschen zu öffnen. Von anderen Personen und Einrichtungen in der Stadt kommen Anfragen für Folge-Gottesdienste an noch anderen ungewöhnlichen Orten. Wieder andere freuen sich an neuen Kontakten.
So eine Dynamik kann man nicht machen. Sie ist jetzt in diesem Fall entstanden. Und so etwas ist immer auch Geschenk. Aber vielleicht sind die oben genannten Dinge Faktoren, die so etwas begünstigen. Und vielleicht scheint darin ja tatsächlich etwas auf von der Kirche von morgen.
Martin Römer
Faszinierende Erfahrungen einer Kirche, wie ich sie mir schon heute vorstelle. Herzlichen Glückwunsch zum Mut, sich einladen zu lassen und sich auf die Unsicherheit des Gastseins einzulassen, hinauszugehen an andere Orte, um dort mit den Menschen Gottes Wirken zu entdecken. Andere Stimmen aus anderen Lebenswelten zu Wort kommen lassen, zuhören und in einen überraschenden Dialog treten, gerne auch (theologischen) „deeptalk“ wagen und gemeinsam aufbrechen – für mich alles Kennzeichen einer Kirche, die unterwegs unter den Menschen ist, Gemeinde in der Gegenwart.