Kann man, wenn man sich 2000 Jahre Christentum anschauen möchte, überhaupt von „Antisemitismus“ sprechen? Mindestens zwei Anfragen daran könnte es geben:
- Der Begriff „Antisemitismus“ ist ja noch keine 150 Jahre alt. Wenn wir also jetzt geschichtlich weiter zurückgehen als ans Ende des 19. Jahrhunderts, ist es dann nicht anachronistisch, das Wort zu verwenden?
- Warum eigentlich „AntiSEMITismus? Es geht doch eigentlich um Hass auf Jüdinnen und Juden, nicht auf die ganze semitische Sprach- und Völkerfamilie. Könnte man nicht besser von „Antijudaismus“ sprechen und wäre das nicht genauer?
Zum ersten Einwand: Manche Wissenschaftler:innen benutzen den Begriff nur für antijüdische Phänomene, die seit dem 19. Jahrhundert zu beobachten sind und betonen damit besonders den rassistischen Charakter des Antisemitismus, der eben im 19. Jahrhundert aufkam. Vorher gab es andere ideologische Begründungen für Hass gegen Jüdinnen und Juden. Sie sagen, dass sich dadurch noch einmal etwas maßgeblich verändert hat. Andere dagegen sprechen auch bei früheren Formen von Judenfeindschaft von Anitsemitismus. Sie wollen damit zeigen, dass es bestimmte Motive und Formen des Judenhasses quer durch alle Zeiten gegeben hat und sie einfach immer wieder neue Begründungsformen gefunden haben. Weil es mir in den folgenden Beiträgen nun genau darum geht – nämlich zu zeigen, wie schon ganz früh und bis in die jüngste Vergangenheit das Christentum die Judenfeindschaft ihrer Zeit nicht nur spiegelt, sondern sogar maßgeblich gefördert und gebildet hat, benutze ich den Begriff Antisemitismus auch rückblickend für frühere Zeiten.
Zum zweiten Einwand: Stimmt – der Begriff ist eigentlich ungenau bzw. unzutreffend. Denn was wir mit Antisemitismus meinen, ist ja „Judenhass und Judenfeindlichkeit“ und gerade nicht ein Hass gegenüber allen, die aus der semitischen Sprach- und Völkerfamilie stammen. Gemeint sind damit ja alle, die der biblischen Erzählung nach auf einen der Söhne Noahs (der mit der Arche), der eben Sem heißt, folgen. So haben den Begriff auch die Erfinder des Wortes, die selbst Judenfeinde waren, verstanden. Sogar die Nazis wollten ihn mal ersetzen, weil sie auch gemerkt haben, dass sie mit ihrer kranken Ideologie eigentlich gar nicht alle Semiten meinten und nicht „Araber und Juden in einen Topf“ werfen wollten. Seit 1945 hat sich der Begriff „Antisemitismus“ aber einfach eingebürgert als Begriff für alle Aspekte judenfeindlicher Ideologie, die den Holocaust ermöglicht, vorbereitet, begleitet und gerechtfertigt haben. Und weil ich gerne zeigen möchte, wie lange das schon zurückgeht, benutze ich ihn auch, auch wenn Antijudaismus sprachlich vielleicht genauer wäre.
Ich spreche also im folgenden von christlichem oder religiösen Antisemitismus und damit über Phänomene und Äußerungen von Judenhass, die sich durch die gesamte Geschichte des Christentums ziehen. Es gibt natürlich auch viele andere Formen von Antisemitismus – z.B. politischen, sozialen, rassistischen, sekundären oder auch religiösen Antisemitismus, der nicht christlich ist. Mir geht es aber speziell um diesen Aspekt, weil er Teil meiner Geschichte als Christ ist.
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