Wenn man sich damit beschäftigten will, seit wann es Antisemitismus in der Kirche gibt, fängt man am besten ganz vorne an. Also in der Zeit, als sich die ersten als Christ:innen als ebensolche verstanden haben. Sofort war damals natürlich die Frage auf dem Tisch, wie sich diese neue religiöse Gemeinschaft zum Judentum positionieren würde. Jesus war ja selber Jude (vergessen viele Menschen heute oft). Die, die ihm nachfolgten und sich auf ihn bezogen, waren erstmal genauso Jüd:innen. Aber zunehmend kamen eben auch Menschen dazu, die eine andere Herkunft hatten. Die Texte des Neuen Testaments spiegeln das wieder – manche sind von Christusnachfolger:innen jüdischer Herkunft geschrieben, andere von Menschen anderer Herkunft In der Bibel werden sie häufig „Heidenchristen“ oder einfach „die Völker“ genannt.

Und so finden sich Texte im Neuen Testament, die besonders die Kontinuität vom Judentum zum Christentum betonen. Jesus ist hier ein vollmächtiger jüdischer Rabbi. Andere fokussieren mehr auf das Neue und betonen die Diskontinuität. Und noch mehr als das: es entstehen Texte und es werden antijüdische Stereotype verwendet, die schon damals im Umlauf waren und seitdem durch alle Zeiten weitertradiert wurden.

Ich kann jetzt hier nicht alle Texte durchgehen und zu jeder einzelnen Stelle gibt es viele Interpretationen. Oft stellt sich die entscheidende Frage: Wenn von „den Juden“ (zum Beispiel im Hinblick auf den Tod Jesu) die Rede ist, geht es dann um einzelne Juden oder jüdische Gruppen (Führende des Volkes, Pharisäer o.ä.) oder ist das jüdische Volk als Kollektiv im Blick? Einige Beispiele:

Ihr habt „von den eigenen Landsleuten erlitten […], wie auch sie von den Juden, die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben […] aber der Zorn ist endgültig über sie gekommen.“ (1. These 2,15)

„Warum versteht ihr meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun.“ (Joh 8,43)

„Die Weingärtner sprachen untereinander: ‚Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein!‘ Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. – Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.“ (Mk 12,8)

Die Motive des Prophetenmords, der Blutschuld, der Verbindung zum Satan, der Verwerfung des jüdischen Volks – wenn man diesen Texten schon nicht direkten Antisemitismus vorwerfen möchte, dann muss man wohl zumindest sagen, dass sie ausgesprochen anknüpfungsfähig dafür sind. Zugleich zieht sich durch das neue Testament auch das Thema des ungekündigten Bundes Gottes mit Israel. Es gilt also, die oben genannten Stellen vom Gesamtduktus den Neuen Testaments her einer Kritik zu unterziehen.