Mein Eindruck der letzten Wochen in den Debatten um die sog. Flüchtlingskrise ist, dass all die Argumente, die in den Kommentarspalten ausgetauscht werden, dass all die Posts und Videos in den sozialen Netzwerken, dass all dies jedenfalls nicht die Wirkung hat, das jeweils andere Lager maßgeblich argumentativ zu überzeugen. Die Emotionen (Mitgefühl, Erschrecken, Sorge, Angst) sind stärker als Argumente, Daten, Fakten etc. Die allermeisten haben sich positioniert, im Lager der sog. „Gutmenschen“ oder dem der „Besorgten“. Manche versuchen noch zu vermitteln, aber sehen sich irgendwann auch gezwungen, sich aufgrund der immer neuen Schreckensmeldungen zu der einen oder der anderen Gruppe zu schlagen. Dabei ist dann auch entscheidend, ob es eher die Schreckensmeldungen aus den Krisengebieten (Folterungen, Exekutionen, Zerstörung von Kunst und Kultur, Bomben, Vergewaltigungen) oder die Schreckensmeldungen vor Ort (Schulsport wegen Belegung der Turnhalle nicht mehr möglich) sind, die das eigene Wohlbefinden mehr in Unruhe versetzen. Mir scheinen die Fronten ziemlich festgezurrt und verhärtet. Die Kommentarspalten zu allen Beiträgen mit Flüchtlings-Thematik lesen sich irgendwie immer ziemlich ähnlich.

Wie wohltuend, in dieser Zeit eine Stimme wie die von Navid Kermani zu hören. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist ihm am Wochenende verliehen worden. Seine Dankesrede ist zugleich politisch fordernd und warmherzig bewegend. Kermani spricht als religiöser Mensch und seine Rede mündet in einem Gebet, und gleichzeitig bewahrt er sich und seinen Zuhörern eine maximale Weitherzigkeit und Toleranz gegenüber religiös anders Fühlenden und nicht-religiösen Menschen. Die Wertschätzung des Anderen, Fremden geht bei ihm soweit, dass sie ihm als Liebe sogar leichter möglich erscheint, als das Eigene zu lieben – zumindest unbefangener.

Jemand wie ich kann den Islam nicht auf diese Weise verteidigen. Er darf es nicht. Die Liebe zum Eigenen – zur eigenen Kultur wie zum eigenen Land und genauso zur eigenen Person – erweist sich in der Selbstkritik. Die Liebe zum anderen – zu einer anderen Person, einer anderen Kultur und selbst zu einer anderen Religion – kann viel schwärmerischer, sie kann vorbehaltlos sein. Richtig, die Liebe zum anderen setzt die Liebe zu sich selbst voraus. Aber verliebt, wie es Pater Paolo und Pater Jacques in den Islam sind, verliebt kann man nur in den anderen sein. Die Selbstliebe hingegen muss, damit sie nicht der Gefahr des Narzissmus, des Selbstlobs, der Selbstgefälligkeit unterliegt, eine hadernde, zweifelnde, stets fragende sein. Wie sehr gilt das für den Islam heute! Wer als Muslim nicht mit ihm hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn kritisch befragt, der liebt den Islam nicht.Navid Kermani

Seine Rede ist ein Plädoyer für die Barmherzigkeit. Er schwärmt von der literarischen Schönheit des Koran und möchte die Weite seiner Auslegungstradition gegen den gegenwärtigen Missbrauch der radikalen Schlächter bewahren. Er erzählt von der Freundschaft zwischen Christen und Muslimen rund um die klösterliche Gemeinschaft von Mar Elian. Und er endet mit der Hoffnung. Und das ist aus meiner Sicht ganz entscheidend in diesen Zeiten. Denn aus einer Haltung der Hoffnung ergeben sich ganz andere Handlungsspielräume als aus einer Haltung der Angst, die eigene Perspektiven grundsätzlich begrenzt.