Heute nachmittag durfte ich Guvara aus Syrien kennenlernen. Eigentlich heißt er anders, aber im Netz nennt er sich so, um sich und seine Familie, die nach wie vor in Syrien lebt, zu schützen. Deshalb tue ich es auch. Diese Begegnung hat mich auf eine Weise bewegt wie wenige andere.

So sehr, dass ich gerade im Gottesdienst zum Buß- und Bettag meine vorbereitete Predigt nach der Hälfte zur Seite gelegt habe und von seiner Geschichte erzählt habe. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich selbst auf der Kanzel innerlich so bewegt war, dass ich gar nicht mehr weiterkam und selbst nur unter Tränen zum „Amen“ gelangt bin. Ich möchte euch auch gerne von ihm erzählen:

Guvara hat als Journalist in Damaskus für das staatliche syrische Fernsehen gearbeitet. An dieser Stelle hat er viele sensible Informationen mitbekommen. Dinge, die andere nicht sehen. Wie andere musste er aber miterleben, wie aus der Oppositionsbewegung gegen Assad mit der ISIS eine Opposition entstand, die noch schlimmer war als das ursprüngliche Übel. Es kam der Punkt, an dem ihm klar wurde, dass er mit seinen Aktivitäten und seiner Dokumentation des unvorstellbaren Leids in seinem Land nicht mehr dort bleiben konnte.

Unter der Vortäuschung von Lügen machte er sich nach Aleppo zu seinen Eltern auf. Auf dem Weg dorthin wurde er gleich fünf mal von Regimetreuen und ISIS-Leuten angehalten. Zuletzt einen Kilometer vor seinem Ziel. Auf dem Laptop, den er dabei hatte, befand sich einiges ISIS-kritisches Material. Einer der Islamisten wollte gerade sein Gepäck kontrollieren, als dieser von einem anderen weggerufen wurde. Sein Glück, denn ansonsten wäre er wohl gleich an Ort und Stelle erschossen worden.

Seine Eltern leben in einem vom Regime kontrollierten Stadtteil, während ISIS den Norden der Stadt beherrscht. Noch sind sie sicher, aber die Lage kann sich ganz schnell ändern. Das Leben seiner Eltern hängt aus seiner Sicht vor allem davon ab, wir die Vereinigten Staaten in nächster Zeit taktieren.

Er selbst floh illegal über die Türkei und Griechenland, wo er mehr als ein Jahr verbrachte, dann zu Fuß nach Mazedonien und Bulgarien und landete irgendwann in unserer Stadt. Hier ist er seit drei Monaten. Es fällt ihm schwer, dass er, ein beruflich erfolgreicher Mensch im syrischen TV-Geschäft, hier von manchen Menschen auf eine Art und Weise behandelt wird, die er als nicht würdevoll empfindet.

Aber er will neu anfangen. So gut das in seiner Sorge um seine Familie und sein ganzes Volk überhaupt geht, die ihn zerfrisst. Da wir gerade versuchen, gemeinsam zu überlegen, was wir für die Flüchtlinge unserer Stadt tun können, damit sie sich hier willkommen fühlen, bin ich genau im richtigen Moment mit ihm in Kontakt gekommen. Im Frühjahr planen wir mit Sarah Brendel ein Event, in dem auch Geschichten und Musik von Flüchtlingen zu Gehör kommen sollen. Er selbst spielt die Laute – wir versuchen noch, ein solches Instrument hier für ihn aufzutreiben.

Ich habe ihn dann gefragt, ob er mir seinen Youtube-Kanal einmal zeigen kann. Er hatte mich vorgewarnt, aber ich war dann darauf trotzdem nicht auf das vorbereitet, was ich sah. Unter anderem hat er mir einen Zusammenschnitt von Videos gezeigt, wo Kinder, die ihre Mutter verloren haben, immer wieder nur den einen Satz schreien: „Wo ist meine Mutter?“ Immer wieder: „Wo ist meine Mutter?“ Er hat die Schreie der Kinder für mich simultan übersetzt und ich habe es nur ganz schwer ertragen können und wollte das Video eigentlich schon gerne mittendrin abschalten, weil mir die ersten Tränen kamen. Aber dann wurde mir bewusst, dass dieser Mann, der neben mir vor dem Bildschirm stand, dieses Leid wirklich erlebt hatte, während ich es mir aus tausenden Kilometern Entfernung anschaute. Und mein Gefühl war, dass ich es ihm schuldig war, bis zum Ende auszuhalten. Ich füge es auch hier ein, weil das die Realität des Krieges ist. Aber es ist harte Kost.

https://www.youtube.com/watch?v=EC-OrsVqjNY

Als Vater kann ich nicht anders als an meine eigenen Kinder zu denken, wenn ich diese Bilder sehe. Und als ich dann ausgehend vom Jesaja-Text heute abend über unsere Verantwortung als Christen für die Waisen und die Flüchtlinge sprach, da war das alles wieder auf überwältigende Weise vor meinen Augen.

Für unser Treffen am Freitagabend haben sich schon jetzt fast 50 Menschen aus Politik, Einrichtungen, Schulen und Kirchen gemeldet, die gerne bei einem Aktionstag und bei vielen anderen Überlegungen mitmachen wollen. Ich weiß noch nicht, was daraus wird. Ich selbst habe wahrscheinlich von allen Beteiligten am wenigsten Ahnung. Aber ich bin so dankbar, dass es so viele Menschen gibt, die ein Herz für andere haben. Guvara wird auch dabei sein. Ich kann euch sagen: Es ist ein Geschenk ihn kennenzulernen.

[Bild: Freedom House, Flickr Creative Commons License, Ausschnitt]