Die letzte Woche habe ich an zwei sehr unterschiedlichen Orten verbracht. Mit unterschiedlich vielen Menschen. Und unterschiedlichem Komfort. Zum einen auf einem Festivalgelände in der Nähe von Cuxhaven. Zum anderen im katholischen bischöflichen Priesterseminar zu Hildesheim.

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Deichbrand

Schon vorher hatte ich damit geliebäugelt, da ich an meinem letzten Urlaubswochenende noch nicht viele Pläne gemacht hatte. Dann hatten Bekannte von mir auf einmal eine Karte fürs Deichbrand-Festival übrig und der vom Ticket Zurückgetretene wollte noch nicht einmal einen Cent dafür haben. Tja, da hab ich deutlich kürzer überlegt als die UEFA-Verantwortlichen gestern Abend für die Absage des EM-Viertelfinals und bin spontan mitgefahren. Jeder, der einmal dort oder an anderen vergleichbaren Orten war, weiß: Festivals sind Orte voller Leben, voller Liebe und voller Alkohol. Aber eben vor allem voller Leben. Auch Orte, an denen man sich einmal nicht gesellschaftskonform, kundenfreundlich, den Erwartungen entsprechend oder obrigkeitshörig verhalten muss. Irgendwie entrückte Orte. Eine andere Welt.

Zwei Welten

Eine andere Welt. Eine, die nichts mit dem restlichen Leben zu tun hat. So nehmen manche Menschen ja auch Kirche wahr. Allerdings nun gerade nicht als einen Ort pulsierenden Lebens und Liebe. Und des Alkohols (mit Ausnahme der homöopathischen Dosis beim Abendmahl). Und das, obwohl derjenige, auf den wir uns als Christen namenstechnisch beziehen, mit genau diesem Anspruch auftrat, nämlich das Leben und die Liebe zu verkörpern. Und auch dem Alkohol nicht völlig entsagte. Insofern interessant, sich direkt im Anschluss an die Festival-Erfahrung mit Kirche beschäftigen zu dürfen.

Am Montagmorgen verdreckt und verschwitzt aus der Müll- und Matsch-Wüste, in der man selbst mit Gummistiefeln fast stecken blieb, mit einem Kofferraum voll klammer Klamotten und Zelte im Priesterseminar anzukommen (vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte dieses Seminars wurden in dessen Keller dann Festival-Zelte getrocknet), war eine äußerst kontrastreichste Erfahrung. Ein gemachtes Bett, gleichmäßig aus dem Duschkopf fließendes Wasser, warmes Essen, Salat-Theke – wieder eine andere Welt.

Ekklesiolab

Noch entscheidender als der Komfort-Level war in diesen Tagen für mich aber das, was uns inhaltlich beschäftigte. Das großartige ökumenische Team von Kirche² hatte für die Woche das Format „Ekklesiolab“ erfunden – ein partizipatives Modell für eine Gruppe, die ihren je eigenen mitgebrachten Themen, Fragestellungen und Ideen gemeinschaftlich nachgehen kann. Eingebettet in den liturgischen Herzschlag der sog. „Lichtteilchen“ entstand so viel Freiraum, zum Teil für sich, aber vor im Miteinander ganz praktisch zusammen theologisch unterwegs zu sein. Denn interessanterweise setzten sich die jeweiligen Format-Gruppen nicht nach Themeninteresse, sondern nach dem gewünschten jeweiligen Output zusammen. So entschied ich mich für die Gruppe, die an einem Spiel/einer Intervention arbeiten wollte.

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Auf die Strasse

Gemeinsam mit zwei anderen Ekklesio-Laboranten war schnell die Idee geboren, den Hildesheimern (die in diesen Tagen ja besonders vom Hochwasser betroffen waren) direkt auf der Straße etwas von Kirche erlebbar werden zu lassen. Auf dem Weg dahin wurde uns schnell klar, dass wir uns zum einen noch einmal damit beschäftigten wollten, was wir heute unter Kirche verstehen können und dass wir zum anderen auch noch einmal auf die Straße müssten.

Zum ersten: Neben biblischen Bildern zu Kirche und Gemeinde und klassischen Beschreibungen von Kirche, in der „das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (Augsburger Bekenntnis, Art. 7) erzählte uns Becci über das Konzept der „Liquid Church“. Hier wird u.a. davon ausgegangen, dass die Gesellschaft sich mehr und mehr verflüssigt (Zygmunt Baumann), in der sich alte Stabilitäten auflösen und eine neue Unübersichtlichkeit in der Welt ergibt. Dies bleibt auch nicht ohne Auswirkungen auf Kirche, die sich nicht nur als trutzige Institution verstehen lässt, sondern auch als Netzwerk von Gelegenheiten (ein guter Einstieg ins Thema aus katholischer Perspektive findet sich hier).

Zum zweiten: Dirk sandte uns dann auf die Straße zu sog. Straßenexerzitien nach der Idee von Christian Herwatz. Mit allen Sinnen und in einer Haltung der Aufmerksamkeit durch die Stadt zu gehen, war gut. Trotz der Kürze der Zeit eine intensive und eindrückliche Erfahrung, die uns ein Gefühl für die Straßen rund um unser Tagungshaus und für die Atmosphäre in der Stadt angesichts des Hochwassers vermittelte.

Etwas von Kirche erleben lassen

Und so war am Folgetag dann schnell die Idee geboren, den Hildesheimern etwas Gutes tun zu wollen. Klassisch an einem unserer Sakramente, dem Abendmahl, orientiert. Fluide in der Form ohne die Notwendigkeit der Gemeinschaftsbildung. Und dennoch Kirche. Nach wenigen Minuten der theologischen Beratung war klar, dass sich die weiteren Schritte direkt bei Rossmann und DM ergeben würden und so setzten wir unsere praktisch-theologischen Beratungen auf dem Weg und in den entsprechenden Drogeriemärkten weiter fort. Es entstanden kleine liebevoll durch Dirk bestempelte Tüten mit Nutella-Breadsticks, nett etikettierten Säften (Hauptbestandteil: Traube) aus dem Reformhaus („Alles wird gut“; „Ruhe und Kraft“) und kleinen Hinführungs- und Segensworten auf Platzdeckchen (24 Stück für 2,49€ bei Rossmann). Falls sich jemand fragt, was meine kreative Aufgabe war: Tütchen packen und zukleben.

Nachmittags konnten wir es dann kaum erwarten, die 24 Tüten auszusetzen. Am Frauenknast, in Bushaltestellen, an Brunnen, auf Parkbänken. Zum Teil haben wir unsere Geschenke an die Hildesheimer einfach losgelassen und sind weitergegangen, zum Teil haben wir beobachtet, was passiert. Einige haben Tüten geöffnet, wieder verschlossen und sind weitergegangen. Einer hat sie geöffnet, ist weitergegangen und dann zurückgekehrt. Zwei haben sie geöffnet und dann gleich alle Tüten dieses Ortes mitgenommen. Eine hat sich gefreut und wollte die andere Tüte auch gleich einem von uns geben. Ein Junge hat eine Tüte absichtlich fallen lassen. Die Traubensaft-Flasche ist zum Glück heile geblieben, aber wir haben uns erschreckt – immerhin hatten wir die Tüte mit Liebe gepackt und auch, wenn es kein Abendmahl im klassischen Sinn war: Irgendwie hatten wir ja auch den ausgesetzt, der uns heilig ist und der sich selbst ausgesetzt hat: Christus.

Eine Aktion, die theologisch mutig war, wie mir erst im Nachhinein richtig bewusst wurde (augenzwinkernder Kommentar: „Wäre ein Katholik in eurer Gruppe gewesen, wäre das vermutlich so nicht gelaufen …“). Die aber bestimmt noch lange in mir nachklingen wird. Insgesamt habe ich viel Lust darauf bekommen, Kirche auch in solchen Interventionen erlebbar zu machen. Mal sehen, was in Nordhorn so geht.